“... Lesen schadet den Augen! ”

     

                   Das Thema  Herbst   in der Lyrik

      

      Barthold Hinrich Brockes (1680 – 1747)

      Gedanken bei dem Fall der Blätter im Herbst

       

      In einem angenehmen Herbst, bei ganz entwölktem heiterm Wetter,

      Indem ich im verdünnten Schatten, bald Blätter-loser Bäume, geh,

      Und des so schön gefärbten Laubes annoch vorhandnen Rest beseh;

      Befällt mich schnell ein sanfter Regen, von selbst herabgesunkner Blätter.

      Ein reges Schweben füllt die Luft. Es zirkelt, schwärmt'und drehte sich,

      Ihr bunt, sanft abwärts sinkend Heer; doch selten im geraden Strich.

      Es schien die Luft, sich zu bemĂĽhn, den Schmuck, der sie bisher gezieret,

      So lang es möglich, zu behalten, und hindert' ihren schnellen Fall.

      Hiedurch ward ihre leichte Last, im weiten Luft-Kreis ĂĽberall,

      In kleinen Zirkelchen bewegt, in sanften Wirbeln umgefĂĽhret,

      Bevor ein jedes seinen Zweck, und seiner Mutter SchoĂź, berĂĽhret;

      Um sie, bevor sie aufgelöst, und sich dem Sichtlichen entrücken,

      Mit Decken, die weit schöner noch, als persianische, zu schmücken.

      Ich hatte diesem sanften Sinken, der Blätter lieblichem Gewühl,

      Und dem dadurch, in heitrer Luft, erregten angenehmen Spiel,

      Der bunten Tropfen schwebendem, im lindem Fall formiertem, Drehn,

      Mit offnem Ă„ug, und ernstem Denken, nun eine Zeitlang zugesehn;

      Als ihr von dem geliebten Baum freiwilligs Scheiden (da durch Wind,

      Durch Regen, durch den scharfen Nord, sie nicht herabgestreifet sind;

      Nein, willig ihren Sitz verlassen, in ihren ungezwungnen Fällen)

      Nach ernstem Denken, mich bewog, sie mir zum Bilde vorzustellen,

      Von einem wohlgefĂĽhrten Alter, und sanftem Sterben: Die hingegen,

      Die, durch der StĂĽrme strengen Hauch, durch scharfen Frost, durch schweren Regen,

      Von ihren Zweigen abgestreift und abgerissen, kommen mir,

      Wie Menschen, die durch Krieg und Brand und Stahl gewaltsam fallen, fĂĽr.

       

      Wie glücklich, dacht' ich, sind die Menschen, die den freiwill'gen Blättern gleichen,

      Und, wenn sie ihres Lebens Ziel, in sanfter Ruh und Fried erreichen;

      Der Ordnung der Natur zufolge, gelassen scheiden, und erbleichen!

                                                                       *

 

      Johann Wolfgang Goethe (1749 – 1832)

      Im Herbst 1775

      (HerbstgefĂĽhl)

       

      Fetter grĂĽne, du Laub,

      Am Rebengeländer

      Hier mein Fenster herauf.

      Gedrängter quillet,

      Zwillingsbeeren, und reifet

      Schneller und glänzend voller.

      Euch brĂĽtet der Mutter Sonne

      Scheideblick, euch umsäuselt

      Des holden Himmels

      Fruchtende FĂĽlle;

      Euch kĂĽhlet des Monds

      Freundlicher Zauberhauch,

      Und euch betauen, ach,

      Aus diesen Augen

      Der ewig belebenden Liebe

      Vollschwellende Tränen.

       

                 *

       

       Römische Elegien IX.

       

      Herbstlich leuchtet die Flamme vom ländlich geselligen Herde,

         Knistert und glänzet, wie rasch! Sausend vom Reisig empor.

      Diesen Abend erfreut sie mich mehr; denn eh’ noch zur Kohle

         Sich das BĂĽndel verzehrt, unter die Asche sich neigt,

      kommt mein liebliches Mädchen. Dann flammen Reisig und Scheite,

         Und die erwärmete Nacht wird uns ein glänzendes Fest.

      Morgen frühe geschäftig verlässt sie das Lager der Liebe,

         Weckt aus der Asche behend Flammen aufs neue hervor.

      Denn vor andern verlieh der Schmeichlerin Amor die Gabe,

         Freude zu wecken, die kaum still wie zu Asche versank.

                               (1788)

            *

        Friedrich Hölderlin  (1770 - 1843)

        Hälfte des Lebens

        Mit gelben Birnen hänget

        Und voll mit wilden Rosen

        Das Land in den See,

        Ihr holden Schwäne,

        Und trunken von KĂĽssen

        Tunkt ihr das Haupt

        Ins heilignĂĽchterne Wasser.

         

        Weh mir, wo nehm ich, wenn

        Es Winter ist, die Blumen, und wo

        Den Sonnenschein,

        Und Schatten der Erde?

        Die Mauern stehn

        Sprachlos und kalt, im Winde

        Klirren die Fahnen.

                                (1803

 

        Clemens Brentano (1778 - 1842)

        Erntelied

        Es ist ein Schnitter, der heiĂźt Tod,

        Er mäht das Korn, wenns Gott gebot;

        Schon wetzt er die Sense,

        Daß schneidend sie glänze,

        Bald wird er dich schneiden,

        Du muĂźt es nur leiden,

        MuĂźt in den Erntekranz hinein,

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Was heut noch frisch und blĂĽhend steht,

        Wird morgen schon hinweggemäht,

        Ihr edlen Narzissen,

        Ihr sĂĽĂźen Melissen,

        Ihr sehnenden Winden,

        Ihr Leid-Hyazinthen,

        MĂĽĂźt in den Erntekranz hinein

        Hüte dich schöns Blümelem?

         

        Viel hunderttausend ohne Zahl,

        Ihr sinket durch der Sense Stahl,

        Weh Rosen, weh Lilien,

        Weh krause Basilien!

        Selbst euch Kaiserkronen

        Wird er nicht verschonen,

        Ihr mĂĽĂźt zum Erntekranz hinein,

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Du himmelfarben Ehrenpreis,

        Du Träumer Mohn, rot, gelb und weiß,

        Aurikeln, Ranunkeln,

        und Nelken, die funkeln,

        Und Malven und Narden

        Brauche nicht lang zu warten;

        MĂĽĂźt in den Erntekranz hinein.

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Du farbentrunkener Tulpen flor,

        Du tausendschöner Floramor,

        Ihr Blutes-Verwandten,

        Ihr Glut-Amaranten,

        Ihr Veilchen, ihr stillen,

        Ihr frommen Kamillen,

        MuĂźe in den Erntekranz hinein.

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Du stolzer blauer Rittersporn,

        Ihr Klapperrosen in dem Korn,

        Ihr Röslein Adonis,

        Ihr Siegel Salomonis,

        Ihr blauen Cyanen

        Braucht ihn nicht zu mahnen,

        MĂĽĂźt in den Erntekranz hinein.

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Lieb Denkeli, VergiĂź mein nicht,

        Er weiĂź schon, was dein Name spricht,

        Dich seufzerumschwirrte

        Brautkränzende Myrte,

        Selbst euch Immortellen

        Wird alle er fällen!

        MĂĽĂźt in den Erntekranz hinein.

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Des FrĂĽhlings Schatz und Waffensaal,

        Ihr Kronen, Zepter ohne Zahl,

        Ihr Schwerter und Pfeile,

        Ihr Speere und Keile,

        Ihr Helme und Fahnen

        Unzähliger Ahnen,

        MĂĽĂźt in den Erntekranz hinein.

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Des Maies Brautschmuck auf der Au,

        Ihr Kränzlein reich von Perlentau,

        Ihr Herzen umschlungen,

        Ihr Flammen und Zungen,

        Ihr Händlern in Schlingen

        Von schimmernden Ringen,

        MĂĽĂźt in den Erntekranz hinein,

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Ihr samtnen Rosen-Miederlein,

        Ihr seidnen Lilien-Schleierlei'n,

        Ihr lockenden Glocken,

        Ihr Schräubchen und Flocken,

        Ihr Träubchen, ihr Becher,

        Ihr Häubchen, ihr Fächer,

        MuĂźt in den Erntekranz hinein,

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Herz, tröste dich, schon kömmt die Zeit,

        Die von der Marter dich befreit;

        Ihr Schlangen, ihr Drachen,

        Ihr Zähne, ihr Rachen,

        Ihr Nägel, ihr Kerzen,

        Sinnbilder der Schmerzen

        MĂĽĂźt in den Erntekranz hinein,

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        O heimlich Weh, halt dich bereit!

        Bald nimmt man dir dein Trostgeschmeid;

        Das duftende Sehnen

        Der Kelche voll Tränen,

        Das hoffende Ranken

        Der kranken Gedanken

        MuĂź in den Erntekranz hinein.

        Hüte dich schöns Blümelein!

         

        Ihr Bienlein ziehet aus dem Feld,

        Man bricht euch ab das Honigzelt,

        Die Bronnen der Wonnen,

        Die Augen, die Sonnen,

        Der Erdsterne Wunder,

        Sie sinken jetzt unter,

        All in den Erntekranz hinein.

        Hüt dich schöns Blümelein!

         

        O Stern und Bllume, Geist und Kleid, 

        Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit! 

        Den Kranz helft mir winden, 

        Die  Gabe helft binden, 

        Jed’ Körnlein wird zählen 

        Der Herr auf seiner Tenne rein. 

        Hüt dich schöns Blümelein!

 

 

            Joseph von Eichendorff (1788-1857)

            Im Herbst

            Der Wald wird falb, die Blätter fallen,

            Wie öd und still der Raum!

            Die Bächlein nur gehn durch die Buchenhallen

            Lind rauschend wie im Traum,

            Und Abendglocken schallen

            Fern von des Waldes Saum.

             

            Was wollt ihr mich so wild verlocken

            In dieser Einsamkeit?

            Wie in der Heimat klingen diese Glocken

            Aus stiller Kinderzeit

            Ich wende mich erschrocken,

            Ach, was mich liebt, ist weit!

             

            So brecht hervor nur, alte Lieder,

            Und brecht das Herz mir ab!

            Noch einmal grĂĽĂź ich aus der Ferne wieder,

            Was ich nur Liebes hab,

            Mich aber zieht es nieder

            Vor Wehmut wie ins Grab.

 

 

        Luise Hensel (1798 – 1876)

        Im Spätherbst

        Schon ist es öd' und stumm im Tal,

        Der Bäume Blätterschmuck erbleicht,

        Und meine Lerchen allzumal

        Hat streng der Nord verscheucht.

         

        Und matter wird der Sonne Schein,

        Bald deckt nun Schnee der Wiese GrĂĽn -

        Ach, meine BlĂĽmchen bunt und fein,

        Sie muĂźten all verblĂĽhn.

         

        Es zieht in mancherlei Gestalt

        Der feuchte Nebel durch die Flur.

        Wie ist sie doch so stumm und kalt,

        Die schlummernde Natur!

         

        Mich aber stört das Dunkel nicht,

        Auch nicht der StĂĽrme laut GebrĂĽll;

        In meiner Seele ist's so licht,

        So wundermild und still.

                                                                 Berlin,  (1813 – 1815)

         

      Nikolaus Lenau  (1802 - 1850)

      HerbstgefĂĽhl

      Der Buchenwald ist herbstlich schon gerötet,

      So wie ein Kranker, der sich neigt zum Sterben,

      Wenn flüchtig noch sich seine Wangen färben,

      Doch Rosen sinds, wobei kein Lied mehr flötet.

       

      Das Bächlein zieht und rieselt, kaum zu hören,

      Das Tal hinab, und seine Wellen gleiten,

      Wie durch das Sterbgemach die Freunde schreiten,

      Den letzten Traum des Lebens nicht zu stören.

       

      Ein trĂĽber Wandrer findet hier Genossen,

      Es ist Natur, der auch die Freuden schwanden,

      Mit seiner ganzen Schwermut einverstanden,

      Er ist in ihre Klagen eingeschlossen.

     

 

          Eduard Mörike ( 1804 - 1875 )

          Septembermorgen

          Im Nebel ruhet noch die Welt,

          Noch träumen Wald und Wiesen:

          Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

          Den blauen Himmel unverstellt,

          Herbstkräftig die gedämpfte Welt

          In warmem Golde flieĂźen.

                         (1827)

 

        Friedrich Hebbel  (1813 - 1863)

         Herbstbild

        Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!

        Die Luft ist still, als atmete man kaum,

        und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,

        die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

         O stört sie nicht, die Feier der Natur!

        Dies ist die Lese, die sie selber hält,

        Denn heute löst sich von den Zweigen nur,

        Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt.

                       (1852)

           

          Theodor Storm (1817 – 1888)

          Herbst (1)

          Schon ins Land der Pyramiden

          Flohn die Störche übers Meer;

          Schwalbenflug ist längst geschieden,

          Auch die Lerche singt nicht mehr.

           

          Seufzend in geheimer Klage

          Streift der Wind das letzte GrĂĽn;

          Und die sĂĽĂźen Sommertage,

          Ach, sie sind dahin, dahin!

           

          Nebel hat den Wald verschlungen.

          Der dein stillstes GlĂĽck gesehn;

          Ganz in Duft und Dämmerungen

          Will die schöne Welt vergehn.

           

          Nur noch einmal bricht die Sonne

          Unaufhaltsam durch den Duft,

          Und ein Strahl der alten Wonne

          Rieselt ĂĽber Tal und Kluft.

           

          Und es leuchten Wald und Heide,

          Dass man sicher glauben mag,

          Hinter allem Winterleide

          Lieg†ein ferner Frühlingstag.

                     (1845)

      

    Herbst (2)

    Die Sense rauscht, die Ähre fällt,

    Die Tiere räumen scheu das Feld,

    Der Mensch begehrt die ganze Welt.

                                       (1847)

 

         

 

     

        Theodor Fontane (1819 - 1889)

        HerbstgefĂĽhl

        Rot und gelbe Herbsteslehnen

        An der Berge blauem Joch,

        Und wie FrĂĽhlingsgruĂź und Sehnen

        Astern blĂĽhen und Verbenen,

        Aber ach, wie lange noch?!

         

        Und aus dunkeltiefer Stelle

        Unter Schäumen und Gepoch

        An des Tages heitre Helle

        Bricht hervor die Waldesquelle,

        Aber ach, wie lange noch?!

         

        Und so schwindet hin das Leben,

        Schwindet, und du liebst es doch.

        Wieder regt sich Stolz und Streben,

        Und der Wunsch kommt auf daneben

        Aber ach, wie lange noch?!

 

 

    Theodor Fontane (1819 - 1889)

    Spätherbst

    Schon mischt sich  Rot in der Blätter GrĂĽn

    Reseden und Astern sind im VerblĂĽhn,

    Die Trauben geschnitten, der Hafer gemäht,

    Der Herbst ist da, das Jahr wird spät.

     

    Und doch (ob Herbst auch) die Sonne glĂĽht -

    Weg drum mit der Schwermut aus deinem GemĂĽt!

    Banne die Sorge, genieĂźe, was frommt1,

    Eh Stille, Schnee und Winter kommt.

     

    Anmerkung zu Zeile 7

    frommen : altertĂĽmliches Wort fĂĽr  nutzen, erträglich sein

     

 

      Theodor Fontane (1819 – 1898)

      Herbstmorgen

      Die Wolken ziehn, wie Trauergäste,

      Den Mond still-abwärts zu geleiten,

      Der Wind durchfegt die starren Ă„ste

      Und sucht ein Blatt aus beĂźren Zeiten.

       

      Schon flattern in der Luft die Raben,

      Des Winters unheilvolle Boten;

      Bald wird er tief in Schnee begraben

      Die Erde, seinen groĂźen Toten.

       

      Ein Bach läuft hastig mir zur Seite;

      Es bangt ihn vor des Eises Ketten,

      Drum stĂĽrzt er fort und sucht das Weite,

      Als könnt ihm Flucht das Leben retten.

       

      Da mocht ich länger nicht inmitten

      So todesnaher Ă–de weilen;

      Es trieb mich fort, mit hastgen Schritten

      Dem flĂĽchtgen Bache nachzueilen.

 

 

          Conrad Ferdinand Meyer (1825 – 1898)

          FĂĽlle

          Genug ist nicht genug! Gepriesen werde

          Der Herbst! Kein Ast, der seiner Frucht entbehrte!

          Tief beugt sich mancher allzureich beschwerte,

          Der Apfel fällt mit dumpfem Laut zur Erde.

           

          Genug ist nicht genug! Es lacht im Laube!

          Die saft’ge Pfirsche winkt dem durst’gen Munde!

          Die trunknen Wespen summen in die Runde:

          »Genug ist nicht genug!« um eine Traube.

           

          Genug ist nicht genug! Mit vollen ZĂĽgen

          SchlĂĽrft Dichtergeist am Borne des Genusses,

          Das Herz, auch es bedarf des Ăśberflusses,

          Genug kann nie und nimmermehr genĂĽgen!

 

 

          Stefan George (1868 – 1933)

          Komm in den totgesagten park und schau:

          Der schimmer ferner lächelnder gestade .

          Der reinen wolken unverhofftes blau

          Erhellt die weiher und die bunten pfade.

           

          Dort nimm das tiefe gelb . das weiche grau

          Von birken und von buchs – der wind ist lau.

          Die späten rosen welkten noch nicht ganz.

          Erlese kĂĽsse sie und flicht den kranz.

                                  

          Vergiss auch diese letzten astern nicht.

          Den purpur um die ranken wilder reben

          Und auch was ĂĽbrig blieb vom grĂĽnen leben

          Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

                                                                                (1895)

 

          Baudelaire (1821 - 1867 - Ăś: Stefan George  - 1868 - 1933)

          Herbstgesang

                                  1

          Bald wird man uns ins kalte dunkel flössen • 

          Fort! schöner sommer der so kurz nur währt!

          Schon hör ich wie mit unheilvollen stössen

          Das holz erdröhnend auf das pflaster fährt.

           

          Der ganze winter dringt in mich: bedrängnis

          Hass zorn und schauder und erzwungner fleiss.

          Der sonne gleicht im nordischen gefängnis

          Mein herz • ein roter block und starr wie eis.

           

          Ich höre zitternd jeden ast der schüttelt —

          Ein grabgerĂĽst giebt keinen dumpfern hall -

          Und an dem turme meines geistes rĂĽttelt

          Des unermĂĽdlich harten Widders prall.

           

          Es scheint mir von dem hohlen lärm umgeben

          Dass man in einen sarg die nägel haut ...

          Für wen? gestern war sommer • herbst ist eben.

          Wie abschied klingt der rätselhafte laut.

           

                                  2

          Ich liebe deiner augen grünen Schimmer •

          Du sanfte • doch nur bittres fühl ich heut •

          Nicht deine liebe nicht kamin und zimmer

          Ersezt das sonnenlicht aufs meer verstreut.

           

          Und dennoch • zarte seele • lieb und hüte

          Auch den der undankbar mit bösem drang •

          Geliebte • schwester! sei die flüchtge gute

          Von herbstesglanz und sonnenuntergang!

           

          Ein kurzes werk ... das grab ist gierig lauernd.

          Ach ich will knieend dir zu füssen sein •

          Des weissen dĂĽrren sommers flucht bedauernd

          Mich freun am gelben milden spätjahrschein.

     

            *

      Rainer Maria Rilke  (1875 - 1926)

      Herbst

       Die Blätter fallen, fallen wie von weit,

      als welkten in den Himmeln ferne Gärten;

      sie fallen mit verneinender Gebärde.

       

      Und in den Nächten fällt die schwere Erde

      aus allen Sternen in die Einsamkeit.

       

      Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

      Und sieh dir andre an: es ist in allen,

       

      Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

      unendlich sanft in seinen Händen hält.

      

     

            Rainer Maria Rilke  (1875 - 1926)

            Herbsttag

            Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groĂź.

            Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

            und auf den Fluren lass die Winde los.

 

            Befiehl den letzten FrĂĽchten voll zu sein;

            Gieb ihnen noch zwei sĂĽdlichere Tage,

            dränge sie zur Vollendung hin und jage

            die letzte SĂĽĂźe in den schweren Wein.

             

            Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

            Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

            wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

            und wird in den Alleen hin und her

            unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

                           (1902)

 

          Oskar Loerke (1884 – 1941)

          Die goldenen Tage

           

          Wie einst Christus ĂĽber das Meer

          Geht einer über die Bergwälder her

          Mit heiligen goldenen FĂĽĂźen:

          Und wo sie unsichtbar gingen zu Tale,

          Da haften glĂĽhende, goldene Male:

          Der Burgen Äölsharfen grüßen,

          Wie wenn die Erde schreie.

          Und Tage wie goldene FlĂĽgel fliegen,

          Plötzlich aus dem Leeren gestiegen,

          Eine lange, lange Reihe.

           

                                                         (aus: Wanderschaft, 1911)

 

        Oskar Loerke (1884 – 1941)

        Märchenspinnender Nebel

         

        Nun tut uns unser Klingen weh

        Und greift so weit, so weit.

        Wir gehen in dunkelnder Allee

        Durch Ahnungen zu zweit

        Wir gehen im Herbstwind unseren Atem kĂĽhlen:

        Es sitzt um uns auf unsichtbaren StĂĽhlen . . .

         

        Heut sind die Pappeln höher schlank

        In unserm armen Tal,

        Und Herberg sind sie traurigsüßen Schnäbeln

        Und unsern Seelen in den Abendnebeln

        Geladen wie auf goldne Bank

        Zur Königin im Saal.

         

                  (aus: Wanderschaft, 1911)

 

        Paul Boldt (1885 – 1921)

        HerbstgefĂĽhl

        Der groĂźe, abendrote Sonnenball

        Rutscht in den Sumpf, des Stromes schwarze Eiter,

        Den Nebel leckt. Schon fließt die Schwäre breiter,

        Und trĂĽbe Wasser schwimmen in das Tal.

         

        Ins finstre Laub der Eichen sinken Vögel,

        Aasvögel mit den Scharlachflügeldecken,

        Die ihre Fänge durch die Kronen strecken,

        Und Schreien, Geierpfiff, fällt von der Höhe.

         

        Ach, alle Wolken brocken Dämmerung!

        Man kann den Schrei des kranken Sees hören

        Unter der Vögel Schlag und gelbem Sprung

         

        Wie Schuß, wie Hussa in den schwarzen Föhren

        Ist alle Farbe! Von dem Fiebertrunk

        Glänzen die Augen, die dem Tod gehören.

                      (1912)

                   

           

          Max Herrmann-Neiße (1886 – 1941)

          Herbstlicher Tiergarten

           

          Tiergartenwege, herbstlaubüberhäuft –

          ich träumte gern von dem, was glücklich macht;

          der Mensch, der wie gehetzt vorüberläuft,

          hat fröstelnd an ein Obdach nur gedacht.

           

          Die Spatzen hĂĽpfen hungrig um die Gruft.

          In seiner Tasche ist kein Bissen Brot.

          Und plötzlich geht en Klingen durch die Luft,

          als läute eine Glocke Sterbensnot.

           

          Es wirft der Wind Wildenten in das Grau,

          das winterlich schon aus der Weite winkt,

          Mich rĂĽhrt das Witwenantlitz einer Frau,

          das noch zu jung in Einsamkeit versinkt.

           

          Der Teich ruht wie vereist, stumm und beruĂźt

          feindlich Verschlossenhalten sich die Boote

          und leugnen alle sommerliche Lust,

          zur Ăśberfahrt bereit nur fĂĽr das Tote.

                  *

            (aus: Max Herrmann-NeiĂźe: Musik der Nacht, Berlin 1932)

 

      Max Herrmann-Neiße (1886 – 1941)

      Gebet an den Herbst

       

      Holder Herbst, aus deinem reichen Segen

      gib auch meiner Dichtung reiche Frucht!

      LaĂź die Trauben glĂĽhn an allen Wegen

      meiner unverzagten Lebensflucht,

      laĂź die Ă„pfel wuchten an den Zweigen,

      in der Hügelgärten goldnem Kranz,

      die papiernen Drachen höher steigen

      in des Abendhimmels bunten Glanz,

      rötlich die Spaliere sich belauben,

      dran mein Lied sich farbig aufwärts rankt

      und, wie du mit Ă„pfeln oder Trauben,

      schließlich sichtbar seinem Schöpfer dankt,

      daĂź er diese Berge mit den Reben

      mir noch einmal zum Geschenke macht.

      Gib auch meinem Herbst gewordnen Leben,

      herbstliche Natur von deiner Pracht!

                 *                            

                 (aus: M. H.-N.; Letzte Gedichte, London/ New York 1941)

 

 

          Georg Heym ( 1887 – 1912)

          Der Herbst

          Viele Drachen stehen in dem Winde,

          Tanzend in der weiten LĂĽfte Reich.

          Kinder stehn im Feld in dĂĽnnen Kleidern,

          Sommersprossig, und mit Stirnen bleich.

           

          In dem Meer der goldnen Stoppeln segeln

          Kleine Schiffe, weiĂź und leicht erbaut;

          Und in Träumen seiner leichten Weite

          Sinkt der Himmel wolkenĂĽberblaut.

           

          Weit gerĂĽckt in unbewegter Ruhe

          Steht der Wald wie eine rote Stadt.

          Und des Herbstes goldne Flaggen hängen

          Von den höchsten Türmen schwer und matt.

     

      

      Georg Heym ( 1887 – 1912)

      Noch einmal treten nun wir in die Sonne …

       Noch einmal treten nun wir in die Sonne,

      Aus goldnem Park und den verschwiegnen Treppen,

      Wo Silberwind die hohen Wipfel reiĂźet.

       

      Und stehen an der Brunnen trocknen Lippen,

      Und sehen hängend in der lichten Stille

      Die braunen Blätter mit den dünnen Rippen.

     

        

            Georg Trakl (1887 - 1914)

            Verklärter Herbst

            Gewaltig endet so das Jahr

            Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.

            Rund schweigen Wälder wunderbar

            Und sind des Einsamen Gefährten.

             

            Da sagt der Landmann: Es ist gut.

            Ihr Abendglocken lang und leise

            Gebt noch zum Ende frohen Mut.

            Ein Vogelzug grĂĽĂźt auf der Reise.

           

            Es ist der Liebe milde Zeit.

            Im Kahn den blauen Fluss hinunter

            Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -

                   Das geht in Ruh und Schweigen unter.

 

  

          Georg Trakl (1887 - 1914)

          Im Herbst

          Die Sonnenblumen leuchten am Zaun,

          Still sitzen Kranke im Sonnenschein.

          Im Acker mĂĽh'n sich singend die Frau'n,

          Die Klosterglocken läuten darein.

           

          Die Vögel sagen dir ferne Mär',

          Die Klosterglocken läuten darein.

          Vom Hof tönt sanft die Geige her.

          Heut keltern sie den braunen Wein.

           

          Da zeigt der Mensch sich froh und lind.

          Heut keltern sie den braunen Wein.

          Weit offen die Totenkammern sind

          Und schön bemalt vom Sonnenschein.

                *

                 

        Ernst Blass (1890  - 1939)

        Herbst

        Nun leitet Herbst uns in die hohen Säle.

        Zu Adel sind wir wehgeschwächt verweht.

        Blind wurde Blicken, Hören wurde taub.

        Gläsern und schmerzlos liegt das Laub.

        Doch unsre Seelen wachsen in die Säle.  

                      (1912)

                       *

        Ernst Blass (1890  - 1939)

        Herbst

         

        Die gelben Blätter, die am Boden liegen,

        Entfernen meinen Geist zu sanftem Fliegen.

        Das war im Sommer! (Und die Schiffe wiegen

        Im klaren Meer.) Die GlĂĽcksaussichten stiegen.

         

        Durchsichtig war die Luft und nah der Strand.

        Du streicheltest mich oft mit deiner Hand.

        Fern sah man manchen Kohlenschiffes Dampf ...

        Das biĂźchen GlĂĽck war doch nur wie ein Krampf.

               *                                (1912)

 

         

      Johann Spratte © (1901 – 1991)

      Im Herbst

      Die Traurigkeit

      hat fette Tage,

      sie frisst sich satt

      an Abschied

      und an Einsamkeit,

      sie mästet sich

      wie eine feiste Ratte

      an süßen Träumen

      die in Tränenpfützen

      faulen.

       

      (aus: J. Spratte, Zeit der Schwalben, Gedichte, Lechte Verlag Emsdetten 1997, S. 38)

 

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            Herbst

            Im Sommer

            waren die Blätter grün,

            aber die Farbe war schlecht,

            und hat sich nicht gehalten.

            Es lohnt auch nicht,

            alles noch einmal

            ĂĽberzustreichen,

            es blättert doch

            alles herunter.

                         *

 

    (aus: Johann Spratte, Gelber Wiesenmond. Ausgewählte Gedichte. Lechte Verlag Emsdetten 1980, S. 97)

    Ich danke ganz herzlich  dem Sohn des Autors, Herrn Wido Spratte, Wallenhorst/ Lechtingen, fĂĽr die

    freundliche Abdruckerlaubnis;  Februar 2011 – s.a.   In memoriam Johann Spratte

 

 

            Hans Bender © (*1919)

            Am Nachmittag

            Dunkel,

            frĂĽher als sonst.

            Ist es der Herbst?

            Sind es die Augen?

     

         Ich danke Hans Bender sehr herzlich fĂĽr die Abdruckerlaubnis dieses anrĂĽhrenden Vierzeilers - 

                                       s.  Dichter – Handwerk – Glaube – Liebe – Mensch -  veröffentlicht in:

    AKZENTE. Zeitschrift fĂĽr Literatur, hrsg. von Michael KrĂĽger, Carl Hanser Verlag Juni 2008 und unter

    dem Titel Nachmittag im September in: H. B., Wie es kommen wird. Meine Vierzeiler,  Hanser Verlag

    2009, S. 66

 

 

        Gerhard Heik Portele © (1933 – 1996)

        Herbst

        Herbstschwere Sonne,

        glasharte Disteln am Rain,

        weißer Apfelduft aus den Körben,

        hinter Scheibenwischern Heidekraut.

         

        Die tonroten Blätter wurden

        im Ofen des Herbstes gebrannt.

        Sein Herz, die Kastanie,

        pocht in der Kinderfaust.

                                               *

                  

      Der Tochter der Autors, Frau Regina Portele aus Mannheim,  einen ganz lieben Dank

     fĂĽr die Abdruckerlaubnis dieses fast verschollenen Herbstgedichts - September 2007

              

 

        Peter Härtling © (* 1933)

         

        Der Ahornherbst verspätet sich in diesem Jahr,

        längst müßten die gefiederten Blätter brennen,

        rot, durchscheinend und das Geäder dunkel eingeschrieben.

        Der Baum hat, weil er sich gegen das Licht strecken

        mußte, umgeben von höheren und älteren Gewächsen,

                                                                           das Gedächtnis

        verloren, ist aus seiner Zeit geraten, die auch meine ist.

        Mit ihm habe ich auf den spät glühenden Herbst gewartet.

         

 

        aus: Peter Härtling, Fenstergedichte. Radius Verlag, Stuttgart 2007, S. 28

        Ich danke dem Autor ganz herzlich fĂĽr die Abdruckerlaubnis; 09. 05. 2011.

 

                *

            Monika Taubitz © (* 1937)

            Herbstblatt

            Im Blatt gelesen

            von goldgrĂĽn

            bis erdbraun.

            Zuende das Jahr.

            Leben

            ĂĽber die Zeilen

            hinaus.

              *

    aus: Monika Taubitz, Dir, Spinnweb Zeit, ins Netz gegangen, Die KĂĽnstlergilde Esslingen, 1983

           s. Sonderseite Monika Taubitz - Gedichte

                 

          Ulrich Schacht © (* 1951)

          Herbst auf Falster 2          Anm. 2:  dänische Insel

           

          Himmel wölbt sich: marmorgrau

          - Boote ruhn kieloben 

          Was gestern lichtzerrissen war  

          zum Netz zusammengewoben.

           

          Wer Farben sucht verlässt den Ort

          er kann nur dunkle entdecken

          Brombeerschwarz färbt Finger rot

          von Hagebuttenhecken

           

          fällt faulig überreife Frucht

          auf windgeschmirgelten Boden

          Das Meer wirft Muschelheere an Land

          beginnt Gesträuch zu roden –

           

          Wer sieht sieht Sturm Zusammenbruch

          wo vorher Wurzelgrund war

          Wer ahnungslos bleibt verläßt den Ort

          und flĂĽchtet ins alte Jahr.

                 *

           aus: Die vier Jahreszeiten. Reihe Reclam, 1991, 178. hrsg.v.  Eckart KleĂźman

  Ulrich Schacht ganz herzlich gedankt fĂĽr die aus Schweden gesandte Abdruckerlaubnis, August 2007

 

                               *

                       Schon raschelt:   Kein copy im Laube:

 

     Augustin Wibbelt (1862 – 1947)  Novemberdag (De Dag hät sick verslaopen)

                 Niewwel ( Niewwel spinnt das griese Laken)

     Gottfried Benn (1886 – 1956) Astern (Astern -, schwälende Tage)

     Erich Kästner (1899 – 1974) Der September  (Das ist ein Abschied mit Standarten)

     Rose Ausländer (1901 - 1988) Herbst IV (Auch im Herbst/ singen die Vögel)

     GĂĽnter Eich (1907 - 1972) Ende eines Sommers (Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume!)

     Heinz Erhardt (1909 - 1979) Perpetuum mobile (Und der Herbststurm treibt die Blätter)      

     Mascha Kaleko (1912 - 1975) Ein welkes Blatt (- und jedermann weiĂź: Herbst)

     Karl Krolow (1915 - 1999) Postkarte vom Herbst(Durch die Postkarte vom Herbst)

     Paul Celan (1920 – 1970)  Dunkles Aug im September (Steinhaube Zeit. Und ĂĽppiger quellen)

               Corona (Aus der Hand frisst der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde)

     Erich Fried (1921 - 1988)  Herbst  (Ich hielt ihn fĂĽr ein welkes Blatt)

     Inge MĂĽller (1925 – 1966)  Herbst (Der Herbst färbt die toten Blätter)

    Rainer Malkowski (1939 - 2003) Herbstgang (Nun steht die Sonne tief)

     

                                                                                                                                                                                                  

                                   Erich Adler  ©

            Ordnung der Jahreszeiten

            Vor meinem Fenster ist die Buche gefallen

            auch der blutende Apfelbaum

            meiner Tochter

       

            Wieder ganz hell mein Blick

            auf die von Pilzen eroberten Reste des Stammes

            vor dem Kompost aufgestapelt

            am Ende des Gartens

       

            Erinnerungen an

            Gedichtanlässe.

               *

               

            Erich Adler ©

            Herbst

            In meinem Garten

            bewachen die StĂĽhle des Sommers

            den leeren Tisch

            Gespräche und Blicke über das Weinglas

            Die ersten Blätter der Eiche

            unterm dunklen Auge des Vogelkastens

            färben das Gras.

 

                          

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