“... Lesen schadet den Augen! ”

 

IMG_0010-red

                      

        Gedichtinterpretation 1  Wintergedicht (Lenau)

 

            Nikolaus Lenau (1802 - 1850)

            Winternacht

             

            Vor Kälte ist die Luft erstarrt,

            Es kracht der Schnee von meinen Tritten,

            Es dampft mein Hauch, es klirrt mein Bart;

            Nur fort, nur immer fortgeschritten!

             

            Wie feierlich die Gegend schweigt!

            Der Mond bescheint die alten Fichten,

            Die, sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt,

            Den Zweig zurück zur Erde richten.

             

            Frost, friere mir ins Herz hinein,

            Tief in das heißbewegte, wilde!

            Dass einmal Ruh mag drinnen sein

            Wie hier im nächtlichen Gefilde!

 

In dem Wintergedicht von Nikolaus Lenau (1802 – 1850) geht es um einen Menschen, der nachts durch einen mit Schnee bedeckten Wald eilt. Es läuft alles auf den Tod hinaus und deshalb könnte es sein, dass sich der Mann aufgrund der Kälte und Angst, die er erlebt, den Tod wünscht. Diese Hypothese werde ich im Folgenden überprüfen.

      Von der äußeren Form her ist das ganze Gedicht in drei Strophen zu je vier Versen eingeteilt. Es herrscht ein gleichmäßiges Versmaß (Metrum) vor mit vierhebigen Jamben und strengem Betonungswechsel. In jeder der drei Strophen ist ein Wechselreim  (a b a b; c d c d; e f e f) mit abwechselnd weiblicher und männlicher Kadenz (m w m w) vorfindbar.

           Von der inneren Form ist das Gedicht in drei Sinnabschnitte gegliedert. Der erste Sinnabschnitt handelt von einem alten Mann, der sehr in Eile ist und seine Wirkung auf die Kälte  beschreibt (Strophe I, Vers 2 „Es kracht der Schnee von meinen Tritten“  und  in Vers 4;  Ausruf des lyrisches Ich: „Nur fort, nur immer fort geschritten“.) Auch ist in der ersten Strophe, dem ersten Sinnabschnitt, schon ein Wort, das den Tod beschreibt und mit ihm zusammenhängt; „Vor Kälte ist die Luft erstarrt“ (Vers 1).   Dieser Satz kann bedeuten, dass Kälte  die notwendige und lebenswichtige Luft getötet hat.

Die zweite Strophe ist auch der zweite Sinnabschnitt. In ihm wird die äußerliche, waldige Umgebung benannt (alte Fichten, Zweig). Auch in dieser Strophe wird der Tod wieder zum Hauptthema. Es scheint, dass der Mann sich wie die Bäume den Tod, vielleicht als endgültige Erlösung, wünscht („ Die sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt“). Auch ist das letzte Wort in der ersten Zeile („schweigt“) ein Stichwort für den Tod. Schweigen, das heißt:  Stille und Ruhe stehen in näherem Bezug zu dem Tod. Der letzte Vers „Den Zweig zurück zur Erde richten“ kann als Metapher, also als bildliche Vorstellung für den Tod verstanden werden, da der sonst so lebendige, zum Himmel gerichtete Zweig sich nun zur Erde richtet und dort dann auch mit dem Tod vereinigt und begraben wird.

In dem dritten Sinnabschnitt, zugleich der dritten Strophe, erreicht das Thema „Tod“ nun seinen Höhepunkt. Der erste Vers beginnt gleich mit einem Zeilensprung, der in die zweite Verszeile hineinreicht. In ihm wird (durch das Stilmittel der Personifikation ) ein Aufruf an den Frost deutlich. Der Mann („das lyrische Ich“ ) möchte endlich von seiner Angst und seiner inneren Unruhe  und Eile (heißbewegtes, wildes Herz) befreit werden. Die dritte Strophe beginnt auch mit einer  Alliteration (Frost, friere), die die Notwendigkeit zu sterben, d.h. aus der Sicht des Frostes die Natur zu töten, noch hervorhebt. Der dritte und vierte Vers stellen einen Vergleich dar („ dass einmal … wie hier“). Es wird die Ruhe im toten Herzen mit der Ruhe im nächtlichen „Gefilde“ verglichen. Alles um den Mann herum ist tot,  außer ihm selbst, obwohl er durch sein hohes Alter 1 (I, 3 „Bart“) schon sehr nah dran scheint zu sterben. Die seelische Not, endlich erlöst zu werden, wird durch die Ausrufe in der dritten Strophe sehr gut deutlich. Obwohl der Frost als Symbol für den Winter und darum für dunkel und beängstigend steht, wird er doch als ‚Mörder’, aber gleichzeitig als Erlöser2 von dem Wanderer erwünscht.

Das ganze Gedicht strahlt auf mich ein besonderes Verständnis von Tod aus, da er  nicht in Angst als Feind, sondern als Erlösung und damit als Freund verstanden wird. Meine Hypothese 3 hat sich damit nur in Teilen  bestätigt, da der Mann sich den Tod als Erlösung und Rettung  vor der eisigen Kälte herbeisehnt.

Ich finde das Gedicht sehr gelungen, da es ein anderes als von mir erwartetes Verständnis vom Tod zeigt. 

 

                                                        Heide Küpker ©  - Kl. 10/ GBE 2000

  Anm.:

    1     Bärte können auch modebedingt getragen werden und sind nicht zwangsläufig ein Zeichen hohen Alters.

     2    Über die Gründe solcher Erlösungsbedürftigkeit müsste man als Interpret nachdenken.

     3.  Gelungen und ganz im Sinne der Interpretationsanlage ist es, die Einstiegshypothese zu überprüfen.

                  *

                       Gedichtinterpretation 2

             

Das Wintergedicht „Winternacht" von Nikolaus Lenau, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasst wurde, befasst sich mit einer unglücklichen Liebe, die nicht länger bestehen und erkalten soll wie die nächtliche Kälte des Winters und dessen Atmosphäre. Nach meinem ersten Textverständnis soll das Gedicht verdeutlichen, wie schwierig es sein kann, verliebt zu sein und vor allem wie schwer es ist, eine Liebe zu vergessen.

Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen. Es ist ein einheitliches Versmaß von 4-hebigen Jamben pro Vers zu erkennen, wobei sich männliche und weibliche Kadenz abwechseln. So sind auch ausschließlich Kreuzreime als Reimschema verwendet worden. Dies könnte auch auf eine Wechselwirkung des geschilderten Problems hindeuten. Einerseits ist der Sprecher über seine Liebe unglücklich, andererseits will er sie vielleicht auch nicht verlieren.

Die erste Strophe „beschreibt“ vor allem die bittere Kälte, in der sich der Sprecher befindet. Dies geht darin über, dass in der zweiten Strophe nun seine Eindrücke der Umgebung deutlich werden. Sinngemäß völlig anders ist die dritte Strophe, worin er erstmals seine Wünsche und Hoffnungen vermittelt, die beinhalten, dass es in seinem Herzen genau so ruhig und kalt seine solle „Wie hier im nächtlichen Gefilde!" (V. 12). Doch schon in den vorangehenden Strophen werden zu der verzwickten Situation des lyrischen Ich Andeutungen gemacht: „Vor Kälte ist die Luft erstarrt" (V. l);  so beginnt das Gedicht. Hier könnte es sein, dass von vornherein dargestellt wird, wie eingeschränkt (erstarrt) die eigenen Fähigkeiten des Sprechers im Bezug auf das besagte Problem sind. Auf ein wirklich zerbrochenes Herz lassen die folgenden Zeilen schließen. „Es kracht der Schnee von meinen Tritten, / Es dampft mein Hauch, es klirrt mein Bart" (V. 2-3). Abgesehen von der hier zu erkennenden Anapher, die für eine Wiederholung spricht, könnte das Krachen bzw. das Klirren ebenso auf eine gebrochene Liebe hindeuten,  die hier also wiederholt werden. „Nur fort, nur immer fortgeschritten" (V. 4) heißt es nun. Es bedeutet entweder, dass der Sprecher vor seiner Liebe wegläuft, worauf man schließen könnte, wenn man bedenkt, dass er sich nachts, draußen, in bitterer Kälte, aufhält; oder aber es bedeutet, dass die Gefühle von ihm weichen sollen.

Die geschilderte Umgebung des Sprechers lässt sich ebenfalls auf das Problem übertragen. Eine Personifikation, „Wie feierlich die Gegend schweigt!" (V. 5), verdeutlicht zunächst, wie sehr sich das lyrische Ich nach Ruhe in seinem Herzen sehnt. Andererseits lässt der folgende Vers „Der Mond bescheint die alten Fichten," (V. 6) darauf schließen, dass der Sprecher vielleicht schon sozusagen ein Licht am Ende des Tunnels sieht, also darauf spekuliert, dass sich sein Schmerz bald bessern wird. Der besagte Satz geht allerdings weiter mit „Die, sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt" (V. 7), was bedeuten könnte, dass das lyrische Ich auch schon an Selbstmord gedacht hat. Dieses wird aber im Folgenden widerlegt: „Den Zweig zurück zur Erde richten" (V. 8), heißt es, was ebenfalls eine wahrscheinliche Besserung vermuten lässt.

Der Liebeskummer des Sprechers wird also wörtlich zwar nur in der letzten Strophe deutlich; eigentlich aber ist jeder Vers dazu bestimmt, eine Parallele zwischen den winterlichen Witterungen und den verletzten Gefühlen des lyrischen Ich zu ziehen. Meine Interpretationshypothese wird also bestätigt; es werden tatsächlich die Schwierigkeiten geschildert, die bei einer unglücklichen Liebe auftreten; es wird aber auch ausgesagt, dass es auch hier einen Ausweg gibt.

Es ist bewundernswert, wie man ein Thema bzw. ein Problem mit anderen Worten so umschreiben kann,dass man ohne einen direkten Hinweis wie hier in der dritten Strophe wohl kaum einen Zusammenhang  erkennen würde. Dies ist dem Verfasser sehr gut gelungen.                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   auf Wunsch anonym ©  GBE Kl. 10 / 2006

                                                                                                                                                                                                                     

> Lenaus PDF Nacht

> Erinnerung

> Das dürre Blatt

> Eigene Gedichte