“... Lesen schadet den Augen! ”

                                                                                                                   Vanitas mundi

 

             Walther von der Vogelweide ( ca. 1170 - 1230)

                                   (Alterslieder)

      1

      Ein meister las,   troum unde spiegelglas

      daz sie zem winde bi der staete sin gezalt.

      Loup unde gras,  daz ie min fröide was,

      swiech nu erwinde,   (i)z dunket mich also gestalt.

      Dar zuo die bluomen manicvalt,

      diu heide rot, der grüene walt,

      der vogele sanc ein truric ende hat.

      Dar zuo der linde  süeze unde linde:

      so we dir, Werlt, wie dirz gebende stat!

       

      Ein tumber wan den ich zer welte han,

      derst wandelbaere,   wand er boesez ende git. 

      Ich solt in lan,   kund ich mich wol verstan,

      daz er iht baere miner sele grozen nit.

      Min armez leben in sorgen lit,

      der buoze waere michel zit;

      nu fürhte ich siecher man den grimmen tot.

      Daz er mit swaere  mir geswaere,

      vor vorhten bleichent mir die wangen rot.

       

      3

      Wie sol ein man  der niuwan sünden kan

      zer werlt gedingen oder gewinnen hohen muot ?

      Sit ich gewan  den muot daz ich began

      zer werlte dingen  merken übel unde guot:

      Do greif ich, als ein tore tuot,

      zer winstern hant reht in die gluot

      und merte ie dem tiefel sinen schal.

      Des muoz ich ringen  mit geringen:

      nu ringe und senfte ouch Jesus minen val.

       

      Heiliger Krist,  sit du gewaltic bist

      der welt gemeine   die nach dir gebildet sint,

      Gip mir die list daz ich in kurzer frist

      alsam gemeine  dich sam din erwelten vint.

      Ich was mit sehenden ougen blint

      und aller guoten sinne ein kint,

      swiech mine missetat der welte hal.

      Mach e mich reine, e min unreine

      versenke mich in daz verlorne tal.

                             *

          Gebet

               1

       Ein Dichter sagte: Traum und Spiegelglas

       dem Winde zugezählt. Das würde ihrer Art entsprechen.

       Laubblatt und  Gras, die ich zur Freude stets besaß

       wie immer auch es  nun zu Ende geht, scheinen vermählt, von gleicher Art.

       Genauso auch die vielen Blumen

       die Heide – rot, der grüne Wald

       Gesang der Vögel ein gar traurig Ende haben.

       Und auch der Linde süßer Hauch, so zart:

       O weh dir, Welt, wie dich der  Kopfschmuck kleidet.

 

                 2

       Törichte Illusion, wie ich die Welt verstand

       zerfällt im Wandel, denn das böse Ende naht.

       Sie aufzugeben, stände mir jetzt an

       sonst bringt sie meiner Seele großen Schaden.

       Mein armes Leben tief in Not gefallen

       zur Buße wäre jetzt die höchste  Zeit;

       nun hab ich kranker Mann im Blick die Angst vorm Tod

       dass er mich quält mit Qualen

       die roten Wangen werden bleich vor Furcht.

            

                                               3

       Wie soll ein Mensch, der nichts kann ohne Sünde

       noch Hoffnung setzen auf die Welt und hoch hinaus mit Plänen?

       Seit mich der Irrwitz packte, dass ich anfing

       die Dinge dieser Welt in gut und schlecht zu trennen:

       da griff ich, wie ein Tor es tut

       mit linker Hand direkt in Glut

       bereicherte dem Teufel seinen Vorrat:

       und folglich, dass ich wälze mich im Schmutz.

       So wälze, Jesus, ab (die Last), heb mich, verfallen wie ich bin.

     

                 4

       Heiliger Christ, seit dir die Macht gegeben ist

       über die Welt, und alles, was nach deinem Bild geschaffen  -

       Gib mir die Gabe, dass ich (doch) nach kurzer Zeit

       dich finde – in  Gemeinschaft mit  Erwählten.

       Ich war mit offenen Augen blind

       in allen guten Plänen nur ein Nichts

       wie sehr ich auch der Welt verbarg mein großes Fehlen.

       Mache mich rein, eh mich die Sündenlast

       hinabsenkt in das Todestal Verlorener. 

                                                                       Walther-Adaption:  Lyrikschadchen

               *

           Martin Opitz (1597 – 1639)

                              Ach Liebste / laß vns eilen /

             Wir haben Zeit:

        Es schadet das verweilen

             Vns beyderseit.

        Der edlen Schönheit Gaben

             Fliehn fuß für fuß:

        Das alles was wir haben

             Verschwinden muß.

        Der Wangen Ziehr verbleichet /

             Das Haar wird greiß /

        Der Augen Fewer weichet /

             Die Brunst wird Eiß.

        Das Mündlein von Corallen

             Wird vngestalt /

        Die Händ' als Schnee verfallen / 

             Vnd du wirst alt.

        Drumb laß vns jetzt geniessen

             Der Jugend Frucht /

        Eh' als wir folgen müssen

             Der Jahre Flucht. 

        Wo du dich selber liebest /

             So liebe mich /

        Gieb mir / das / wann du giebest /

             Verlier auch ich.

                                                          (1624)

      Anm. Vers 2: die Zeit drängt; wir haben keine (!) Zeit mehr.                                                     (Carpe diem- / Vanitas mundi-Motiv)

 

    Andreas Gryphius (1616 -1664)

     Thränen in schwerer Kranckheit.

          MIr ist ich weiß nicht wie / ich seuffze für und für.

    Ich weyne Tag und Nacht / ich sitz in tausend Schmertzen;

    Vnd tausend fürcht ich noch / die Krafft in meinem Hertzen

        Verschwindt / der Geist verschmacht / die Hände sincken mir.

        Die Wangen werden bleich / der muntern Augen Zir

    Vergeht / gleich als der Schein der schon verbrannten Kertzen

    Die Seele wird bestürmt gleich wie die See im Mertzen.

        Was ist diß Leben doch / was sind wir / ich und ihr?

    Was bilden wir uns ein! was wündschen wir zu haben?

    Itzt sind wir hoch und groß und morgen schon vergraben:

        Itzt Blumen morgen Kot wir sind ein Wind / ein Schaum /

    Ein Nebel / eine Bach / ein Reiff / ein Tau' ein Schaten

    Itzt was und morgen nichts / und was sind unser Thaten?

        Als ein mit herber Angst durchaus vermischter Traum.

 

      Andreas Gryphius (1616 -1664)

      Vber seines Herrn Bruder P. GRYPHII Grab.

       HIr ruht / dem keine Ruh' auff diser Welt bescheret:

          Hir ligt der keinmal fil / hir schläfft das hohe Haupt /

          Das für die Kirche wacht / hir ist / den GOtt geraubt /

      Der voll von GOtt / doch nichts denn GOtt allein begehret.

      Der Mann den GOtt als Gold dreymal durch Glutt bewehret

          Durch Elend / Schwerdt / und Pest / der unverzagt geglaubt:

          Dem GOtt nach stetter Angst / hat stete Lust erlaubt

      Nach dem ihn Seuch / und Angst / und Tod umbsonst beschweret.

          Dein Bischoff/ Crossen! ach! Den GOttes Geist entzünd’t.

          Dem an Verstand und Kunst man wenig gleiche findt.

      Vnd des Beredsamkeit kaum einer wird erreichen.

          In dem die Tugend lebt / durch den die Tugend lehrt /

          Mit dem die Tugend starb / dem JEsus itzt verehrt.

      Was sich mit keinem Schatz der Erden läst vergleichen.

     

 

“Fredy” Kantor - Kafkas Grab - Maine 1998 -  ein Geschenk für meine “Bunte Nachricht”,             das mich erst postum erreichte.

 

    Andreas Gryphius (1616 -1664)

     Der Tod.

         WAs hilfft die gantze Welt / Mensch! deine Stunde schlägt!

    Zwar eh' als du vermeynt! doch wer muß nicht erbleichen?

    Nun wird die Schönheit rauch; nun muß die Tugend weichen /

        Nun ist dein Adel Dunst / die Stärcke wird bewegt!

        Hir fällt auff eine Baar der Hutt und Krone trägt

    Hir feilt die grosse Kunst / kein Tagus schützt die Reichen.

    Man siht kein Alter an / die gantz verstellte Leichen

        (O Freunde! gutte Nacht!) wird in den Staub gelegt

    Du scheidest! gantz allein! von hir! wohin! so schnelle!

    Diß ist des Himmels Bahn! die öffnet dir die Helle!

        Nach dem der strenge Printz sein ernstes Vrtheil hegt.

        Nichts bringst du auff die Welt / nichts kanst du mit bekommen:

    Der einig' Augenblick hat / was man hat / genommen.

        Doch zeucht dein Werck dir nach. Mensch! deine Stunde schlägt.

     

     

        Matthias Claudius (1740 – 1815)

        Der Mensch

        Empfangen und genähret

        Vom Weibe wunderbar

        Kömmt er und sieht und höret

        Und nimmt des Trugs nichts wahr;

        Gelüstet und begehret,

        Und bringt sein Tränlein dar;

        Verachtet und verehret,

        Hat Freude und Gefahr;

        Glaubt, zweifelt, wähnt und lehret,

        Hält nichts und alles wahr;

        Erbauet und zerstöret;

        Und quält sich immerdar;

        Schläft, wachet, wächst und zehret;

        Trägt braun und graues Harr

        Und alles dieses währet,

        Wenn’s hoch kommt, achtzig Jahr.

        Dann legt er sich zu seinen Vätern nieder,

        Und er kömmt nimmer wieder.

                                            (1783)

 

    Johann Wolfgang Goethe (1749 - 1832)

    Wanderers Nachtlied II ( Ein Gleiches)

    Über allen Gipfel

    Ist Ruh,

    In allen Wipfeln

    Spürest du

    Kaum einen Hauch;

    Die Vögelein schweigen im Walde.

    Warte nur, balde

    Ruhest du auch.                       

                                             (1780)

 

        Luise Hensel (1798 - 1876)

        Will keine Blumen mehr

        Die Sommerrosen blühen

        Und duften um mich her;

        Ich seh' sie all' verglühen;

        Will keine Blumen mehr.

              

        Der Bruder mein tat ziehen

        Mit Königs stolzem Heer,

        Läßt einsam mich verblühen;

        Will keine Blumen mehr.

              

        Die blanken Waffen sprühen

        Weit Funken um ihn her;

        Das Herz tut ihm erglühen;

        Will keine Blumen mehr.

              

        Und Silbersterne blühen

        Um Helm und Brustschild her,

        Die blitzend ihn umziehen;

        Will keine Blumen mehr.

              

        Die Sommerrosen glühen

        Und duften all' so sehr;

        Ich seh' sie all' verblühen;

        Will keine Blumen mehr.

                                                           (1814)

     

     

    Eduard Mörike ( 1804 – 1875)

    Denk es, o Seele!

    Ein Tännlein grünet wo,

    Wer weiß, im Walde,

    Ein Rosenstrauch, wer sagt,

    In welchem Garten?

    Sie sind erlesen schon,

    Denk es, o Seele,

    Auf meinem Grab zu wurzeln

    Und zu wachsen.

     

    Zwei schwarze Rösslein weiden

    Auf der Wiese,

    Sie kehrten heim zur Stadt

    In muntern Sprüngen.

    Sie werden schrittweis gehn

    Mit deiner Leiche;

    Vielleicht, vielleicht noch eh

    An ihren Hufen

    Das Eisen los wird,

    Das ich blitzen sehe!

                                                 (1851)

 

Leichentuch und Sargreste:  Adolph Kolping (1813 - 1865)

                       in der Minoritenkirche Köln

     

           Gottfried Keller (1819 – 90)

      Abendlied

      Augen, meine lieben Fensterlein

      Gebt mir schon so lange holden Schein,

      Lasset freundlich Bild um Bild herein:

      Einmal werdet ihr verdunkelt sein!

       

      Fallen einst die müden Lider zu,

      Löscht ihr aus, dann hat die Seele Ruh;

      Tastend streift sie ab die Wanderschuh,

      Legt sich auch in ihre finstre Truh.

       

      Noch zwei Fünklein sieht sie glimmend stehn,

      Wie zwei Sternlein innerlich zu sehn,

      Bis sie schwanken und dann auch vergehn,

      Wie von eines Falters Flügelwehn.

       

      Doch noch wandl ich auf dem Abendfeld,

      Nur dem sinkenden Gestirn gesellt;

      Trinkt, o Augen, was die Wimper hält,

      Von dem goldenen Überfluss der Welt!

                                                                           (1872)

 

      Detlev on Liliencron (1844 – 1909)

      Acherontisches Frösteln

      Schon nascht der Staar die rote Vogelbeere,

      Zum Erntekranze juchheiten die Geigen,

      Und warte nur, bald nimmt der Herbst die Scheere

      Und schneidet sich die Blätter von den Zweigen,

      Dann ängstet in den Wäldern eine Leere,

      Durch kahle Äste wird ein Fluß sich zeigen,

      Der schläfrig an mein Ufer schickt die Fähre,

      Die mich hinüberholt ins große Schweigen.

                      (1893 ?)

      

    Max Dauthendey  (1867 - 1918)

    O Grille, sing

    O Grille, sing

    Die Nacht ist lang.

    Ich  weiß nicht, ob ich leben darf

    Bis an das End von deinem Sang.

     

    Die Fenster stehen aufgemacht.

    Ich weiß nicht, ob ich schauen darf

    Bis an das End von dieser Nacht.

     

    O Grille, sing, sing unbedacht,

    Die Lust geht hin,

    Und Leid erwacht.

    Und Lust im Leid, -

    Mehr bringt sie nicht, die lange Nacht.

 

      Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

      Morgue

      Da liegen sie bereit, als ob es gälte,

      nachträglich eine Handlung zu erfinden,

      die miteinander und mit dieser Kälte

      sie zu versöhnen weiß und zu verbinden;

       

      denn das ist alles noch wie ohne Schluss.

      Was für ein Name hätte in den Taschen

      sich finden sollen? An dem Überdruss

      um ihren Mund hat man herumgewaschen:

       

      er ging nicht ab; er wurde nur ganz rein.

      Die Bärte stehen, noch ein wenig härter,

      doch ordentlicher im Geschmack der Wärter,

       

      nur um die Gaffenden nicht anzuwidern.

      Die Augen haben hinter ihren Lidern

      Sich umgewandt und schauen jetzt hinein.

                      (1906)

 

        Rainer Maria Rilke ( 1875 - 1926)

        Der Tod der Geliebten 

        Er wusste nur vom Tod was  alle wissen

        dass er uns nimmt und in das Stumme stößt

        Als aber sie, nicht von  ihm fortgerissen,

        nein, leis aus seinen  Augen ausgelöst.

         

        hinüberglitt zu  unbekannten Schatten,

        und als er fühlte, dass  sie drüben nun

        wie einen Mond ihr Märchenlächeln hatten

        und ihre Weise wohlzutun:

         

        da wurden ihm die Toten so bekannt,

        als wäre er durch sie mit einem jeden

        ganz nah verwandt; er ließ die andern  reden

         

        und glaubte nicht und  nannte jenes Land

        das gutgelegene, das immersüße

        Und tastete es ab für ihre Füße.

                       (1907)

 

      Oskar Loerke (1884 – 1941)

      Tote Tage

       

      Tage, wo der lange Regenbesen

      Geisterhaft im Garten scheuert, zischt,

      Und die Welt, was sie gehabt, gewesen,

      Nebelnd zur Vergangenheit verwischt,

       

      Tage, wo man dumpf von Schrank zu Schranke

      Wandert und in leere Fächer sieht,

      Aufhorcht, wie der Laut im Schlosse kranke,

      Und um seinethalb den Schlüssel zieht,

       

      Und den Schlüssel dreht und drückt am Barte,

      Wärmt, vergißt in schlaff geschlossner Faust,

      Wann ein Feuer durch des Ofens Scharte

      Unverständlich wie das goldne Leben saust.

       

              *

      Oskar Loerke (1884 – 1941)

      Stundenschlag

       

      Zwei schlanke Frauen trägt das plumpe Kupferpendel,

      die Stirn und kühle Wange zueinander neigen.

      Ihr dünnes Kleid fällt bauschig, mattblau wie Lavendel,

      Vom Mund glüht Bitternis nach ausgetanztem Reigen.

       

        (aus: Oskar Loerke, Wanderschaft, 1911)

 

 

    Georg Trakl (1887 – 1914)

    Nähe des Todes

           2. Fassung

    O der Abend, der in die finsteren Dörfer der Kindheit geht.

    Der Weiher unter den Weiden

    Füllt sich mit den verpesteten Seufzern der Schwermut.

     

    O der Wald, der leise die braunen Augen senkt,

    Da aus des Einsamen knöchernen Händen

    Der Purpur seiner verzückten Tage hinsinkt.

     

    O die Nähe des Todes. Lass uns beten.

    In dieser Nacht lösen auf lauen Kissen

    Vergilbt von Weihrauch sich der Liebenden schmächtige Glieder.

                             1912/1913

     

    Georg Trakl (1887 – 1914)

    Amen

    Verwestes gleitend durch die morsche Stube;

    Schatten an gelben Tapeten; in dunklen Spiegeln wölbt

    Sich unserer Hände elfenbeinerne Traurigkeit.

     

    Braune Perlen rinnen durch die erstorbenen Finger.

    In der Stille

    Tun sich eines Engels blaue Mohnaugen auf.

     

    Blau ist auch der Abend;

    Die Stunde unseres Absterbens, Azraels Schatten,

    Der ein braunes Gärtchen verdunkelt.

                             (1913)

 

        Alfred Lichtenstein (1889 - 1914)

        Der Entleibte

        Weiß lieg ich

        Auf einem Rest von einem Rummelplatz

        Zwischen zackigen Bauten –

        Brennende Blume ... leuchtender See...

         

        Zehen und Hände

        Streben ins Leere.

        Sehnsucht zerreißt den weinenden Körper.

        Über mich gleitet der kleine Mond.

         

        Augen greifen

        Weich in tiefe Welt,

        Hüten versunken

        Wandernde Sterne.

                 (1912)

 

 

    Baudelaire (1821 - 1867) Üb.: Stefan George, 1918

    TRÜBSINN  LXXVIII

     Mir deucht ich hätte vor mir tausend jahr.

     

    Kein Schreibtisch überfüllt mit einer schaar

    Von versen liedern liebesbriefen akten

    Und haaren schwer in rechnungen gepackten

    Mehr heimlichkeiten als mein hirn bewacht.

    Ein riesenbau ists wo in tiefem schacht

    Mehr tote als im massengrabe rollen.

     

    Ich bin ein kirchhof dem die sterne grollen

    Wo — innre qualen — lange würmer ziehn •

    Sie raffen meine liebsten toten hin.

     

    Ich bin ein alt gemach wo rosen schmachten -

    Mit einem Wirrwarr von verjährten trachten.

    An offnen fläschchens dufte laben sich

    Ein kläglich bildnis ein verblasster stich ..

    Nichts dehnt sich wie der lahmen tage stocken

    Wenn unter schneeiger jahre schweren flocken

    Der missmut der aus dumpfer müde rinnt

    Die grösse der Unsterblichkeit gewinnt.

     

    Nun bist du weiter nichts - o staub mit leben -

    Als ein granit mit schreckenshauch umgeben

    In tiefer wüsten nebeldunst versenkt.

    Vergessner alter sfinx dess niemand denkt •

    Nirgends vermerkt und dessen wilde laune

    Beim sonnenuntergang sein lied nur raune.

     

                    *

       

      Ernst Blass  (1890 - 1939)

      Vormittag

      Den grünen Rasen sprengt ein guter Mann.

      Der zeigt den Kindern seinen Regenbogen,

      Der in dem Strahle auftaucht dann und wann.

      Und die Elektrische ist fortgezogen

       

      Und rollt ganz ferne. Und die Sonne knallt

      Herunter auf den singenden Asphalt.

      Du gehst in Schatten, ernsthaft, für und für.

      Die Lindenbäume sind sehr gut zu dir.

       

      Im Schatten setzt du dich auf eine Bank;

      Die ist schon morsch; - auch du bist etwas krank –

      Du tastest heiter; daß ihr nicht ein Bein birst.

       

      Und fühlst auf deinem Herzen deine Uhr,

      Und träumst von einer schimmernden Figur

      Und dieses auch: daß du einst nicht mehr sein wirst.

               *                                             (1912)

 

    Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

    Letzte Fahrt

    An meinem Todestag – ich wird ihn nicht erleben –

    Da soll es mittags rote Grütze geben,

    mit einer fetten, weißen Sahneschicht . . .

    Von wegen: Leibgericht.

     

    Mein Kind, der Ludolf, bohrt sich kleine Dinger

    Aus seiner Nase – niemand haut ihm auf die Finger.

    Er strahlt, als einziger, im Trauerhaus.

    Und ich lieg da und denk: „Ach, polk dich aus!“

     

    Dann tragen Männer mich vors Haus hinunter.

    Nun fasst der Karlchen die Blondine unter,

    die mir zuletzt noch dies und jenes lieh . . .

    Sie findet: Trauer kleidet sie.

     

    Der Zug ruckt an. Und alle Damen,

    die jemals, wenn was fehlte, zu mir kamen:

    vollzählig sind sie heut noch einmal da . . .

    Und vorne rollt Papa.

     

    Da fährt die erste, die ich damals ohne

    Die leiseste Erfahrung küsste: die Matrone

    Sitzt schlicht im Fond, mit kleinem Trauerhut.

    Altmodisch war sie – aber sie war gut.

     

    Und Lotte! Lottchen mit dem kleinen Jungen!

    Briefträger jetzt! Wie ist mir der gelungen?

    Ich sah ihn nie. Doch wo er immer schritt:

    mein Postscheck ging durch sechzehn Jahre mit.

     

    Auf rotem samtnen Kissen, im Spaliere,

    da tragen feierlich zwei Reichswehroffiziere

    die Orden durch die ganze Stadt,

    die mir mein Kaiser einst verliehen hat.

     

    Und hinterm Sarg mit seinen Silberputten,

    da schreiten zwoundzwanzig Nutten —

    sie schluchzen innig und mit viel System.

    Ich war zuletzt als Kunde sehr bequem...

     

    Das Ganze halt! Jetzt wird es dionysisch!

    Nun singt ein Chor: Ich lächle metaphysisch.

    Wie wird die schwarzgestrichne Kiste groß!

    Ich schweige tief.

          Und bin mich endlich los.

                       (1922)

               *

    Kurt Tucholsky (1890 – 1935)

    BERLINER HERBST

         Für Paul Graetz

    Denn, so um'm September rum,

    denn kriejn se wacklije Beene —

    die Fliejen nämlich. Denn rummeln se so

    und machen sich janz kleene.

         Nee —

    fliejn wolln se nich mehr.

     

    Wenn se schon so ankomm, 'n bisken benaut. . .

    denn krabbeln se so anne Scheihm;

    oda se summ noch 'n bisken laut,

    aba mehrschtens lassen ses bleihm . . .

         Nee -

    fliejn wolln se nicht mehr.

     

    Wenn se denn kriechen, falln se beinah um.

    Un denn wem se nochmal heita,

    denn rappeln se sich ooch nochmal hoch,

    im denn jehts noch 'n Stiksken weita —

    Aba fliejn... fliejn wolln die nich mehr.

     

    Die andan von Somma sind nu ooch nich mehr da.

    Na, nu wissen se — nu is zu Ende.

    Manche, mit so jelbe Eia an Bauch,

    die brumm een so über de Hände . . .

    A richtich fliejn wolln se nich mehr.

     

    Na, und denn finnste se morjens frieh,

         da liejen se denn so hinta

         de Fenstern rum. Denn sind se dot.

         Und wir jehn denn ooch in’ n Winta.

      Wie alt bist du eijentlich -?

     

         - «Ick? Achtunfürzich.»                      

         - «Kommst heut ahmt mit, nach unsan Lokal -?“

         - «Allemal.»       

                             * 

 

 

          Hans Bender (* 1919)

           Altersphotographie

           

          Das bin nicht ich.

          Einer, der dich

          nicht mag, hat

          das Negativ vertauscht.

           

              *

           

          Hans Bender (* 1919)

          Vergleich

           

          So ist Altsein,

          so steil, so zäh, so klamm.

          Als zöge man seinen Schlitten

          nicht durch Schnee, sondern Schlamm.

           

               *

             (aus:

             Hans Bender, Auf meine Art. Gedichte in vier Zeilen, Hanser Verlag 2012, S. 32 und 28 ;

       dem Autor ein herzliches Dankeschön für die Publikationserlaubnis vom 12. 02. 2012.

          *

 

        Kurt Marti (* 1921)

        betrauern wir diesen mann

        nicht weil er gestorben ist

        betrauern wir diesen mann

        weil er niemals wagte

        glücklich zu sein

         

        betrauern wir diesen mann

        der nichts war als arbeit und pfllicht

        betrauern wir diesen mann

        weil er immer getan hat

        was man von ihm verlangte

         

        betrauern wir diesen mann

        der nie mit der faust auf den tisch schlug

        betrauern wir diesen mann

        weil er nie auf das urteil anderer pfiff

        und einfach tat was ihm paßte

         

        betrauern wir diesen mann

        der fehlerfrei funktionierte

        betrauern wir diesen mann

        weil er streit und frauen vermied

        und heute von allen gerühmt wird

         

        betrauern wir diesen mann

        nicht weil er gestorben ist

        betrauern wir diesen mann

         

        weil er war wie auch wir sind –

        betrauern wir uns

               *

 

   aus: Kurt Marti, Leichenreden. Sammlung Luchterhand Darmstadt und Neuwied, 1976, S. 31

   Pfarrer Kurt Marti nach seiner schweren Erkrankung ein sehr herzliches Dankeschön für

   die Abdruckerlaubnis und Gottes Segen –  Ende August 2007.  

                 *

           

        Dagmar Nick (* 1926)

        Letzte Bilder

         

        Die Gewitterwand und der Stau

        der vertrauten Bilder dahinter

        samt den Schamanen mit ihren

        abgenutzten Beschwörungsformeln.

        Kein Innehalten im Näherrücken

        des Undurchschaubaren.

        Der erwartete Scherwind, der dich

        beiseite fegt wie ein Papier,

        das du beschriften wolltest.

         

        Es war schön hier.

        Ich werde vergessen.

         

            *

        Dagmar Nick (* 1926)

        Rialtobrücke. Carne vale

         

        Die Denk-Schrift

        exakt hinter der Larve,

        kein Jota zur Seite gerückt,

        eine Festung für den Verrat.

        Auch das Lächeln darunter

        ist eine Fälschung. Die Rechnung

        geht auf. Die Verführung. Bis

         

        unversehens deine Sterblichkeit

        zuschlägt, ein Fausthieb

        ins schirmende Bild, und

        dir der Nächste die Maske

        abnimmt, das hübsche Stück

        Stoff für ein Album: das Alphabet

        der Liebesbesessenheit jetzt

        lesbar wie der Ruf nach dem Tod.

         

        Er kam auf Bestellung.

            *

    Der Autorin Dagmar Nick herzlich gedankt für diese und weitere Gedichte - 22. Februar 2010

 

      Maximilian Zander (* 1929)

      Aus Herrn Antrobus' Tagebuch

       

      Wir sind einen Kalendertag

      weitergekommen. Es gab keine Gasexplosion.

      Genügend Unglück stand in der Zeitung.

      Wir blieben verschont.

       

      Unsere internen Katastrophen verursachen

      kein Geräusch. Wir werden nicht auffällig.

      Wie es aussieht, wird hier kurzfristig

      keiner zur Axt greifen.

       

      Manches macht uns nicht mehr so glücklich

      wie früher. Wir essen Gemüse; rauchen nicht;

      sind fleißig; gehen den Leuten aus dem Weg;

      glauben nicht allzuviel; und lieben einander.

       

      Aber das ist zu wenig.

      Kein Zweifel, es wird zunehmend schwieriger,

      von jemandem verläßlich zu wissen: Der hier

      lebt noch, oder: Der ist schon tot.

       

      Manchmal, nachts (es geht schnell vorbei)

      entsetzt uns die Einsicht, daß wir allein sind

      in diesem riesigen Sarkophag -

      Wir gehen ins Haus und stellen den Fernseher an.

 

           *

      Maximilian Zander (* 1929)

      Und gelegentlich abreisen

       

      Wo früher

      wie der Großvater sagt

      der Sitz der Seele war

      auch schon mal gebrüllt/geschluchzt wurde

      jetzt dieser second hand shop

      mit allem was Leichen lieben

       

      Das ist die Lage.

       

      Modern vermodern

      aber die Asche nicht auf den Teppich -

      fallen lassen und gelegentlich abreisen

      im selbstgeblasenen bißchen unruhigen Wind

       

      Das war ein Vorschlag.

       

      Mitsingen im Chor

      und nie den Einsatz verpassen

      Wieviel Zeit bleibt dir noch?

       

      Das ist immer die Frage.

                       *

    aus: Maximilian Zander, Antrobus’ Tagebuch. Gedichte. Edition YE Bd. 7,

                                       Sistig /Eifel 2004

    Dem Autor einen herzlichen Dank für die Abdruckerlaubnis, Mai 2010.

 

 

        Peter Härtling © (*1933)

        Nachhall

                                         1.

         

        Jetzt, nach den Einbrüchen, dem gestockten Atem,

        richten sich die Sätze auf -  nur

        verstehe ich sie nicht mehr: Lettern oder Latten.

        Ich versuche Schritte, denen ich Richtung geben kann:

        Hinauf und hinüber. Was ist die Grenze?

        Aus Übermut sage ich gegen die Wand: Eine Amsel singt,

        was sie gelernt hat, zwischen Regen und Schnee.

        Durchsichtiger werden die Aussichten.

        Ich habe nichts von ihnen.

        Leichentücher aus Glas gesponnen.

        Ehe es Abend wird.

        Ehe es Morgen wird.

        Lebe ich den Tag ab.

        Und versiegle meine Träume.

        Geh! sage ich mir und schaue mir entgegen.

        Wieviel weiß ich?

        Wieviele Wörter fielen aus der Wand?

         

 

     aus: Peter H.ärtlingkommen – gehen – bleiben. Gedichte. Radius Verlag        

                   Stuttgart 2004 , S. 65;  darin: Kp VI  Nachhall  1. – 9.)

                                                                                  

     Ich danke dem Autor ganz herzlich für die Abdruckerlaubnis; 09. 05. 2011

 

 

          Albert von Schirnding (* 1935)

          Carpe diem

           

          Eine Tür

          fällt ins Schloß

          wenn ich erwache

          Schon wieder

          dem Tag

          in die Falle gegangen

          Draußen Schreckschüsse

          kommender Tage

 

 

    aus: Albert von Schirnding: Übergabe. Achtzig Gedichte. Ebenhausen b. München 2005, S. 56  - Langewiesche-Brandt KG

 

      Albert von Schirnding (* 1935)

      Futur exakt

       

      Ich werde geatmet haben

      und werde vergangen sein

      Ich werde umfangen dich haben

      Du wirst verlassen sein

       

      Du wirst getrauert haben

      Der Schmerz wird verwunden sein

      Die meiner gedachten – alle

      werden verschwunden sein

       

      Ich bin und muß doch wissen:

      Ich werde gewesen sein

      für immer dir entrissen

      Mein Name wird ausgelöscht sein

 

 

       aus: Albert von Schirnding, War ich da? Gedichte, Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 2010, S. 13

                                                                    

    Dem Autor für die spontane Antwort vom 16. 02. 2012  - und sein großzügiges Einverständnis mit einer Gedichtauswahl für einen Abdruck hier - meinen ganz herzlichen Dank. (Ad)

 

 

        Theo Breuer (* 1956)

        montage 3 – steinig geschliffen

         

        auf knochen schlafen

        sandige ewigkeiten

        im harten bachbett

         

        rückgestauter fluß

        der soldat +  das mädchen

        glückgeklauter kuß

         

        glasiges röcheln

        gärtner blumen schauen sich

        im schwarzen wasser

         

           *

         

        Theo Breuer (* 1956)

        zeige deine wunde

         

        grauer filzhut das erkennungszeichen

        was wollt der mensch dort wohl verstecken

        war der am end zum bloßen kopf bedecken

        nein! fragen können den nicht mehr erreichen

         

        denn der ist tot – ganz schnell mal ausgeblasen

        wurd die kerze eines erdenlebens

        war der so müd des lötens sich erhebens

        ja! zu viel hatz ist tod auch dieses hasen

         

        der fetten bürgern filzne haken schlug

        schlichte stoffe ihrer welt fremd gemacht

        (was feinen freunden vorkommt wie betrug)

         

        ich seh den noch wie der die goldne krone trug

        da hat man den auch dornig ausgelacht

        (wem hat der seinen filzhut wohl vermacht)

 

                *

    aus: Theo Breuer, Land Stadt  Flucht. Gedichte, Edition YE Sistig/ Eifel 2002

   Dem Autor für die Abdruckerlaubnis seines Sonetts herzlichen Dank; Mai 2010

 

                                       Kein Copyright:

 

    Augustin Wibbelt ( 1862 – 1947)

    De Daut  (De Daut geiht ümmer dör de Welt) 

    Naober Daut: In den Rausentied (An’n stillen warmen Summeraobend gonk)

    Regina Ullmann (1884 – 1961)  Und stirbt sie auch

    Gottfried Benn (1886 – 1956)

    Kleine Aster (Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt)

    Requiem ( Auf jedem Tisch zwei. Männer und Weiber)

    Schöne Jugend (s. Motivkreis Mensch)

    Günter Eich (1907 – 1972)

    Ende eines Sommers (Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume)

    Albert Hiemer (1907 – 1990)

    Beerdigung (Zwölf Regenschirme/ sehen auf den Sarg)

    Christine Lavant (1915 - 73) Wieder brach er bei dem Nachbarn  ein

    Hans Bender (* 1919)

    Befund (Hier die Narben)

         Senilità (Es fällt ihm schwer)

    Beim Frisör (Das sind keine Federn)

    Paul Celan (1920 - 1970)         

    Chanson einer Dame im Schatten (Wenn die Schweigsame kommt und die

                        Tulpen köpft)

         Der Sand aus den Urnen (Schimmelgrün ist das Haus des Vergessens.)

    Inge Müller (1925 – 1966)    Mond Neumond deine Sichel

    Ingeborg Bachmann  (1926 – 1973) Die große Fracht (s. Motivkreis Sommer)

    Christian Saalberg (1926 - 2006)  Komm, großer Wind lege ein Lächeln

                                                   auf mein Grab     http://www.christian-saalberg.de/

    Reiner Kunze (* 1933)         Selbstmord (Die letzte aller Türen)

    Rainer Malkowski (1939 - 2003) Die Herkunft der Uhr (Die Uhr kommt von der Sonne)

                 Gestürzte Linde (Meine Hand auf dem alten Leib)

                                               *

     

                         Erich Adler  ©

          Schwerer Schritt

          Kurz den Dom zu betreten

          das sei ihr zur Zeit nicht möglich

          nach dem Tod des Sohnes

           

          Und während die eine der Frauen in die Stille

          des Altarraums tritt vor das Kreuz

          trennen sich

          für ein paar Augenblicke

          die Wege beider

          zwischen

          Gebet und Warten

           

          Am Abend sehe ich

          Bilder aus einem namhaften Zirkus

           

          - Ein Clown dessen  Verlust in Zeitungen stand -

          sehe ihn lachen und trauern und

          tanzen mit dem Papierschirm

          auf imaginärem Seil.

       

                                                                                                              

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