“... Lesen schadet den Augen! ”

 

                                             Formenvielfalt in der Lyrik:

 

     1. Reimformen:

    a)    rein - unrein (Assonanz) usw.

    b)    identisch - doppelt - unterbrochen usw.

    c)    einsilbig (männlich) - zweisilbig (weiblich) usw.

    d)    am Anfang - innen (binnen) - am Ende (Refrain) usw.

 

     2. Strophenformen:

    a)    germanisch-deutsche: Volksliedstrophe (vier- oder mehrzeilig) u.a.

    b)     romanisch: Stanze (Achtzeiler) u.a.

    c)    antik: Zweizeiler aus Hexameter und Pentameter (Distichon);

                 Odenstrophe (vierzeilig, Faller und Doppelfaller gemischt)

       

          3. Gedichtformen:

    1. Germanisch-deutsche Formen:

 

                  Moritat/ Erzähl-/ Dinggedicht  

 

    2. Romanische Formen

 

          c)     Romanze (Spanien)

      (Ballade, Heldenlied etc.)

 

     3. Orientalische Formen:

    Ghasel

 

    4. Japanische Form:

             Haiku

 

    5. Antike Formen:

     a)   Elegie

    b)   Hymne

    c)    Ode

    d) Worträtsel

       

             Beispiele:

         Kinderlied (Schlaf-, Spiel-/ Tier- /Quatsch -)

                 (Parodie)

         Joachim Ringelnatz (Hans Bötticher) (1883 - 1943)

        Überall

        Überall ist Wunderland. 

        Überall ist Leben.

        Bei meiner Tante im Strumpfenband 

        Wie irgendwo daneben. 

        Überall ist Dunkelheit.

        Kinder werden Väter.

        Fünf Minuten später

        Stirbt sich was für einige Zeit.

        Überall ist Ewigkeit.

       

        Wenn du einen Schneck behauchst,

        Schrumpft er ins Gehäuse,

        Wenn du ihn in Kognak tauchst,

        Sieht er weiße Mäuse.

        

        “Kinderlieder” - Volksgut

       

        Hänschen klein

        Hat Scheiß am Bein

        Hat abgeleckt

        Hat gut geschmeckt.

       

        Paul - Paul

        Steck die Wurst ins Maul.

        Steck sie nicht daneben

        Sonst muss ich dir eine kleben.

        Steck sie nicht zu tief

        Sonst kommt ein Liebesbrief.

            *

        etwas frommer:

        (Konfession ist nach Wohnort austauschbar)

       

        Katholische/(evangelische) Ratten

        in Zucker gebacken

        In Mehl gerührt

        Zur Hölle geführt.

         

               * * *

             Moderne Vierzeiler:

       

      Hans Bender (* 1919)

      Meine Vierzeiler ( 1 )

      Unbrauchbar

      für die Frankfurter Anthologie.

      Für Interpreten zu kurz,

      sogar verständlich sind sie.

 

          *

 Bänkel(song)

                     Wiener Moritat:

             Die Mordtat auf der Mörderbastei

                        oder: der schaurige Fund im Abzugskanale, welche wahre Begebenheit den sämtlichen

                       liebenden Jungfrau’n jedwedes Geschlechtes zur abschreckenden Beherzigung dienen                            sollte:

 

                        Schon wieder ist jüngst hier in Wien

                        ein Meuchelmord geschehen.

                        Mich schaudert’s, wenn ich denk daran,

          ich muss es selbst gestehen.

                        Da ging ein Mann auf die Bastei.

                        O, glaubet meinen Worten.

                        Und tat so, wie es sich erwies,

                        sein Liebchen dort ermorden.

 

                        Das Mädchen hat durch diesen Mord

                        den größten Schmerz gelitten.

                        Der Mörder hat nach ihrem Tod

                        den Kopf gar abgeschnitten.

                        Dann hatte die Gedärme

                        er aus ihrem Leib gerissen.

                        Warum er diese Tat vollzog,

                        wird er am besten wissen.

 

                        Den Körper warf der Bösewicht

                        ins Wasser, ganz im Stillen,

                        Und tat, was sich leicht denken lässt,

                        gar keine Reue fühlen.

                        Dann wurden die Gedärme gar

                        wohl im Kanal gefunden.

                        Man denke sich den großen Schreck,

                        den man da hat empfunden.

 

                        Die Menschheit strömt auf die Bastei,

                        um diesen Ort zu sehen,

                        wo diese Tat von einem Mann

                        erst unlängst ist geschehen.

                        Unglaublich ist, dass mancher Mensch

                        sich kann soweit verirrren,

                        dazu gehört ein Tigerherz,

                        um sowas auszuführen.

 

                        Das kommt daher, wenn stets der Mensch

                        im Leichtsinn dahin schwebet.

                        Auch Gott vergisst als Freigeist nur

                        auf dieser Erde lebet.

                        Darum soll stets ein jeder Mensch

                        gerecht und edel handeln.

                        So kann er dann auf dieser Welt

                        vergnügt durchs Leben wandeln.

 

                

         Im Kontrast dazu:

          Geistliches Lied - NGL

         

          Friedrich Spee von Langenfeld (1591 - 1635)

           Das Vatter Vnser poetisch auffgesetzt.

         

           Eingang.

          Ach Vatter hoch entwohnet,

              Ob allen Lufften weit,

          Aldà dir Sonn, vnd Monet

              Gar tieff zun Füssen leit:

          Nim an von mir geringen,

              Ja nim die Seufftzer an,

          So Mir von hertzen dringen,

              Durch läre wolckenbaan.

         

          Die 1. Bitt.

          Ach wurd nur stäts gepriesen

              Nur dein so schöner Nam,

          Wan späth sich hatt gewiesen

              Der Nächtlich Sternenkraam!

          Wan früh dan auch erschienen

              Der Täglich glantz, vnd glast,

          Vnd vns mitt frewden dienen

              Sonn, Mon ohn ruh, vnd rast.

          Dich alle Stund, vnd Vhren,

              Ich wölt von hertzen mein,

          All deine Creaturen

              Recht lobten in gemein,

          O Gott laß Dir zun Ehren

              Erd, Himmel springen auff,

          Wil ia mich nitt beschweren

              Jchs mitt dem Halß erkauff.

         

          Die 2. Bitt

          Nun stincket mir auff Erden

              Die Welt, vnd weltlich pracht:

          Nach Wagen, Gutsch, und Pferden,

              Gold, gelt nitt geitzig tracht.

          Ach nur das Reich dort oben,

              Die runde Tempel dein

          Vns raum doch vnverschoben

              Nach disem leben ein.

         

          Die 3. Bitt.

          Weil vnderdeß wir niessen

              Den süssen Sonnenschein,

          Wölt Ich wir nie verliessen

              Den minsten willen dein:

          Gar offt ich wunsch von hertzen,

              Gestrenger Herr, vnd Gott,

          Nie keiner wöl verschertzen

              Auff Erden dein gebott.

         

          Die 4. Bitt.

          Dich auch wir weiters bitten

              Vmb Nahrung, Speiß, vnd Brot,

          Daß ie doch bleib vermitten

              Die saure Taffelnoth.

          Auß deiner hand ia prasset

              Die Nackend Rabenzucht,

          Vnd weiß, auff dich gepasset,

              Von keiner Mangelsucht.

         

          Die 5. Bitt.

          Nitt ruck zu Sinn mitt grimmen

              Die Sünd, vnd Sündenschuld;

          Vns mach in zähren schwimmen,

              Hab wenig noch gedult.

          O Gott, so Du mitt augen

              Die Sünd wölt schawen an,

          Wurd gar für Vns nitt taugen,

              Nie köndten wir bestahn.

         

          Die 6. Bitt.

          Das Fleisch mitt süssen pfeilen

              Vns trifft in süssem blick:

          Die Welt von Seyden Sailen

              Vns macht gar sanffte Strick:

          Der Satan vns mitt Ehren,

              Mit Cron, vnd Scepter lad:

          Versuchung thut sich mehren:

              Hilff, hilff, gib rath, vnd that.

         

          Die 7. Bitt.

          Ja milt, vnd frommer Vatter,

              Ja Vatter, Vatter fromm

          Der Hellisch Drach,  vnd Natter

              Schaff nie zun kräfften komm.

          Vor seinem Gifft, vnd Flammen,

              Vor Seel- vnd Leibsgefahr,

          Erhalt uns allesammen

             Ohn Vbel immerdar.

              *

               

       Geister-/ Schauerballade (s. o.)

      Herder - Goethe   Erlkönig         Der Totentanz

       

      Eduard Mörike (1804 -1875)!                                                               

       Die Geister am Mummelsee (1828)

       

      Vom Berge was kommt dort um Mitternacht spät

      Mit Fackeln so prächtig herunter?

      Ob das wohl zum Tanze, zum Feste noch geht?

      Mir klingen die Lieder so munter.

      O nein!

      So sage, was mag es wohl sein?

       

      Das, was du da siehest, ist Totengeleit,

      Und was du da hörest sind Klagen.

      Dem König, dem Zauberer, gilt es zuleid.

      Sie bringen ihn wieder getragen.

      O weh!

      So sind es die Geister vom See!

       

      Sie schweben herunter ins Mummelseetal ----

      Sie haben den See schon betreten ----

      Sie rühren und netzen den Fuß nicht einmal ----

      Sie schwirren in leisen Gebeten ---

      O schau,

      Am Sarge die glänzende Frau!

       

      Jetzt öffnet der See das grünspiegelnde Tor;

      Gib acht, nun tauchen sie nieder!

      Es schwankt eine lebende Treppe hervor,

      Und ---- drunten schon summen die Lieder.

      Hörst du?

      Sie singen ihn unten zur Ruh.

       

      Die Wasser, wie lieblich sie brennen und glühn!

      Sie spielen in grünendem Feuer;

      Es geisten die Nebel am Ufer dahin,

      Zum Meere verzieht sich der Weiher ----

      Nur still!

      Ob dort sich nichts rühren will?

       

      Es zuckt in der Mitten ---  o Himmel!  ach hilf!

      Nun kommen sie wieder, sie kommen!

      Es orgelt im Rohr und es klirret im Schilf;

      Nur hurtig, die Flucht nur genommen!

      Davon!

      Sie wittern, sie haschen mich schon!

     

      Erzählgedicht  (s.o. 3 b)

     

    Rainer Maria Rilke ( 1875 - 1926)

     Rast auf der Flucht in Ägypten

     

    DIESE, die noch eben atemlos

    flohen mitten aus dem Kindermorden:

    o wie waren sie unmerklich groß

    über ihrer Wanderschaft geworden.

     

    Kaum noch daß im scheuen Rückwärtsschauen

    ihres Schreckens Not zergangen war,

    und schon brachten sie auf ihrem grauen

    Maultier ganze Städte in Gefahr;

     

    denn so wie sie, klein im großen Land,

    -fast ein Nichts -den starken Tempeln nahten,

    platzten alle Götzen wie verraten

    und verloren völlig den Verstand.

     

    Ist es denkbar, daß von ihrem Gange

    alles so verzweifelt sich erbost?

    und sie wurden vor sich selber bange,

    nur das Kind war namenlos getrost.

     

    Immerhin, sie mußten sich darüber

    eine Weile setzen. Doch da ging

     sieh: der Baum, der still sie überhing,

    wie ein Dienender zu ihnen über:

     

    er verneigte sich. Derselbe Baum,

    dessen Kränze toten Pharaonen

    für das Ewige die Stirnen schonen,

    neigte sich. Er fühlte neue Kronen blühen.

    Und sie saßen wie im Traum.

                                                                (1912)

     

     Erich Adler  (* 1944)

    Erzählgedicht, erprobte Nähe

 

    Dinggedicht

     

        Eduard Mörike  (1804 -1875)!

        Auf eine Lampe

         

        Noch unverrückt, o schöne Lampe, schmückest du,

        An leichten Ketten zierlich aufgehangen hier,

        Die Decke des nun fast vergessenen Lustgemachs.

        Auf deiner weißen Marmorschale, deren Rand

        Der Efeukranz von goldengrünem Erz umflicht,

        Schlingt fröhlich eine Kinderschar den Ringelrein.

        Wie reizend alles! lachend, und ein sanfter Geist

        Des Ernstes doch ergossen um die ganze Form --

        Ein Kunstgebild der echten Art. Wer achtet sein?

        Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.

       

    Romanze

       

        Heinrich Heine (1797 - 1856)

        Klagelied

         eines altdeutschen Jünglings

       

        Wohl dem, dem noch die Tugend lacht,

        Weh dem, der sie verlieret!

        Es haben mich armen Jüngling

        Die bösen Gesellen verführet.

       

        Sie haben mich um mein Geld gebracht

        Mit Karten und mit Knöcheln;

        Es trösten mich die Mädchen

        Mit ihrem holden Lächeln.

         

        Und als sie mich ganz besoffen gemacht

        Und meine Klieder zerrissen,

        Da ward ich armer Jüngling

        Zu Tür herausgeschmissen.

         

        Und als ich des Morgens früh erwacht

        Wie wund’r ich mich über die Sache!

        Da saß ich armer Jüngling

        Zu Kassel auf der Wache.

     

      Ghasel

         

    Hugo von Hofmannsthal

    Ghasel

     

    In der ärmsten kleinen Geige liegt die Harmonie des Alls verborgen,

    Liegt ekstatisch tiefstes Stöhnen, Jauchzen süßen Schalls verborgen;

    In dem Stein am Wege liegt der Funke, der die Welt entzündet,

    Liegt die Wucht des fürchterlichen, blitzesgleichen Pralls verborgen.

    In dem Wort, dem abgegriffnen, liegt was mancher sinnend suchet:

    Eine Wahrheit, mit der Klarheit leuchtenden Kristalls verborgen ...

    Lockt die Töne, sticht die Wahrheit, werft den Stein mit Riesenkräften!

    Unsern Blicken ist Vollkommnes seit dem Tag des Sündenfalls verborgen.

                                                    (1891)

             Rondel

     

        Georg Trakl

        Rondel

         Verflossen ist das Gold der Tage,

        Des Abends braun und blaue Farben:

        Des Hirten sanfte Flöten starben

        Des Abends braun und blaue Farben

        Verflossen ist das Gold der Tage.

                                                 *

           So   nett     oder ernsthafter?   s.  Sonett-Typen

       

       William Shakespeare  (1564 – 1616)  Sonett CXVI

     

      Let me not to the marriage of true minds

      Admit impediments: love is not love

      Which alters when it alteration finds,

      Or bends with the remover to remove.

     

      Oh no! it is an ever-fixèd mark

      That looks on tempests and is never shaken;

      It is the star to every wandering bark,

      Whose worth's unknown although his height be taken.

     

      Love's not Time's fool, though rosy lips and cheeks

      Within his bending sickle's compass come;

      Love alters not with his brief hours and weeks,

      But bears it out even to the edge of doom.

       

      If this be error and upon me prov'd,

      I never writ, nor no man ever lov'd.

     

             Dem festen Bund getreuer Herzen soll

      Kein Hindernis erstehn: Lieb' ist nicht Liebe,

      Die, in der Zeiten Wechsel wechselvoll,

      Unwandelbar nicht stets im Wandel bliebe.

     

      Ein Zeichen ist sie fest und unverrückt,

      Das unbewegt auf Sturm und Wellen schaut,

      Der Stern, zu dem der irre Schiffer blickt,

      Des Wert sich keinem Höhenmaß vertraut.

     

      Kein Narr der Zeit ist Liebe! Ob gebrochen

      Der Jugend Blüte fällt im Sensenschlag,

      Die Liebe wankt mit Stunden nicht und Wochen,

      Nein, dauert aus bis zu dem Jüngsten Tag!

       

      Kann dies als Irrtum mir gedeutet werden,

      So schrieb ich nie, ward nie geliebt auf Erden!

                                                                  Ü: Max Josef Wolff

 

     

      MEin oft bestürmbtes Schiff der grimmen Winde  Spil

      Der frechen Wellen Baal/ das schir die Flutt getrennet/

      Das über Klip auff Klip’/ und Schaum/ und Sandt gerennet.

      Komt vor der Zeit an Port/ den meine Seele wil.

     

      Offt/ wenn uns schwarzte Nacht im Mittag überfil

      Hat de geschwinde Plitz die Seele schir verbrennet!

      Wie oft hab ich den Wind/ und Nord’ und Sud verkennet!

      Wie schadhaft ist Spriet*/Mast/ Steur/ Ruder/ Schwerdt und Kill.

     

      Steig aus du müder Geist/ steig aus/ wir sind am Lande!

      Was graut dir für dem Port/ itzt wirst du aller Bande

      Vnd Angst/ und herber Pein/ und schwerer Schmertzen loß.

     

      Ade/ verfluchte Welt: du See voll rauer Stürme!

      Glück zu mein Vaterland/ das stette Ruh’ im Schirme

      Vnd Schutz und Friden hält/ du ewig-lichtes Schloß!

 

  

    Petrarca-Typ:

         Reinhold Schneider (1903 - 1958)  Allein den Betern (kann es noch gelingen)

 

    Moderne Sonette :

 

        Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1929)

         Die Beiden (1896)

         

        Sie trug den Becher in der Hand

        Ihr Kinn und Mund glich seinem Rand-,

        So leicht und sicher war ihr Gang,

        Kein Tropfen aus dem Becher sprang.

       

        So leicht und fest war seine Hand:

        Er ritt auf einem jungen Pferde,

        Und mit nachlässiger Gebärde

        Erzwang er, dass es zitternd stand.

       

        Jedoch, wenn er aus ihrer Hand

        Den leichten Becher nehmen sollte,

        So war es beiden allzu schwer:

        Denn beide bebten sie so sehr,

        Dass keine Hand die andre fand

        Und dunkler Wein am Boden rollte.

     

  (Hofmannsthals Sonett findet man gelegentlich auch mit Leerzeile zwischen den Terzetten.)

 

    Ulla Hahn (* 1946) Anständiges Sonett (Komm beiß dich fest ich halte nichts vom Nippen)

 

    Ernst Jandl (1925 – 2000)  sonett  (das a das e das i das o das u)

 

    Gerhard Rühm (* 1930)  sonett (erste strophe erste zeile)

     

     

          Robert Gernhardt (1937 - 2006 ) Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform                                                                   italienischen Ursprungs( Sonette find ich sowas von                                                                                 beschissen) 

                                                                                                                        

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