“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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                     In memoriam Johann Spratte (1901 – 1991)

 

                I.

 

            Johann Spratte  © (1901 – 1991)

            Frühling

             

            Widmung in ein Buch

            mit Gedichten schreiben.

            Goldglanz auf der Trompete

            im Schützenzug.

            Gartenwind

            der einen weißen

            Faltenrock bewegt.

            Wolken über roten

            Ziegeldächern,

            und am Himmel

            ein Freiballon  - 

 

 

          Johann Spratte  © (1901 – 1991)

          Gartencafé

           

          Julisonne,

          goldene Gedanken

          des Nachmittags.

          Unter bunten Baldachinen

          Sommers Himbeergeläut.

          Schneehäubchen,

          geschäftige Schmetterlinge,

          flattern zwischen

          pastellenen Stühlen.

          Rote Pudelschleife,

          und Madames

          zärtliches Lachen.

           

          Die alte Kastanie

          wickelt versonnen ihr Garn   -

                    

 

                Johann Spratte  © (1901 – 1991)

                Später Herbst

                 

                November

                hängt in den weißen

                Nebelnetzen.

                Der verlorene Himmel

                modert im Laub.

                Unter welkem

                Brombeergerank

                hockt verlassen

                der Sommer

                und weint sich aus.

 

 

        Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Abendhimmel

         

        Gehen die Lichter an

        in der Stadt,

        wächst alles

        wuchtig und schwarz.

        Keiner will diesen Himmel glauben,

        der wie eine Ansichtskarte ist

        aus San Salvadore oder Tessin.

        Aber eine einsame Frau

        am Fenster ihrer Mansarde

        denkt an Don Pedro

        in dem Buch aus der Leihbücherei,

        und der Himmel verdunkelt in Rot

        wie ein Ballade.

 

 

              Johann Spratte  © (1901 – 1991)

              Liebespaar

               

              Abend dunkelt,

              alle Häuser

              flüstern Geheimnis.

               

              Liebende,

              trunken von Mond

              und Melancholie

              wandeln auf gläsernen

              Brücken des Traums,

               

              ihre Blicke brennen

              goldene Siegel

              in die steinerne Stille.

 

 

              Johann Spratte  © (1901 – 1991)

              Kindheit

               

              Stiegendunkel.

              Eine Stufe knarrt,

              wenn nachts Gespenster

              in die Kammer huschen.

              Mond im Fenster,

              weiße Geisterfrauen

              hocken kichernd

              auf der Truhe,

              und die Zeit rumort

              im Uhrgehäuse.

  

 

              Johann Spratte  © (1901 – 1991)

               

              Eilender Vogelflug

              Ferne von Abend schwer,

              was ist geblieben?

              Eilender Vogelflug,

              Ferne von Abend schwer  -

 

                                                   (aus dem Zyklus Charlotte)

 

                Johann Spratte  © (1901 – 1991)

                Treibholz

                 

                Kalendernotizen,

                Daten, Termine,

                eingehalten,

                oder verpaßt.

                Neunzehnter Mai

                und sechster November,

                achtuhrdreißig

                und zwischen neun und zehn.

                Notizen, Termine,

                vorüber, gewesen.

                Gesichter und Namen,

                und alte Briefe:

                Lieber John!

                Wer war Susanne?

                Gesichter und Namen,

                fortgeworfene Traurigkeiten,

                Rest einer Sehnsucht,

                Gedanken und Träume,

                Alles über die Reling

                der Jahre gespült,

                zerschlagen vom Sturm,

                zerfressen

                vom bitteren Salz

                der Augen.

 

 

                                                     Johann Spratte - 1985  Fotorechte © Wido Spratte

 

          Johann Spratte  © (1901 – 1991)

          Diskussion

           

          Wir waren zu dreien:

          Mein Freund,

          eine Flasche Gin, und ich.

          In vorgerückter Stunde

          kam noch der liebe Gott dazu

          und Immanuel Kant.

          Letzterer setzte sich abseits

          und kiebitzte

          hinter unseren Rücken.

          Wir führten ein langes

          erregtes Gespräch,

          mein Freund,

          der liebe Gott, und ich.

          Hin und wieder

          mischte die Flasche sich ein

          mit geistreichen Witzen,

          und manchmal machte Kant

          eine bissige Bemerkung,

          bis spät in der Nacht,

          als wir uns total zerstritten

          die Flasche verstummte.

          Immanuel Kant

          war schon vorher gegangen,

          nur den lieben Gott

          wurden wir nicht wieder los.

 

      aus:

      Johann Spratte, Treibholz.  Eingesammelte Gedichte. Verlag Lechte,  Emsdetten 1969

 

                II.

                 

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            Zeit der Schwalben

             

            Heimkehren,

            wieder zu Hause sein,

            als wäre nichts gewesen.

             

            Die Gartenpforte ist angelehnt,

            Kresse rankt am rostigen Zaun,

            Dielendämmer und Fliegensummen,

            und im irdenen Krug

            Margeriten und  Mohn.

            Herber Geruch

            von rauchigen Bohlen,

            von gelber Butter

            und Gerstenstroh.

            Die alte Standuhr häkelt

            bedächtig ihre Zeit, und weckt

            mit knarrenden Schlägen

            die Stille des Nachmittags.

            Schwalben zirpen

            und hüten das Haus,

            alles hat Sinn und Bestand

            im Gefüge der Zeit.

            Die Welt ist geborgen,

            und eingesäumt

            mit Wäldern und Wolken,

            dahinter wohnt Gott.

                     *

         

          Johann Spratte © (1901 – 1991)

          Sommerhimmel

           

          Eine kleine

          weiße Wolke

          zog vorüber.

          Was blieb ist Bläue.

          Der Himmel

          hat keine Bezirke.

         

                                                             

        Johann Spratte © (1901 – 1991)

        Altes Paar

         

        Das ist ihre Bank,

        dort im Park

        bei den Rhododendren.

        Juniabend ist um sie her,

        der Wind schläft

        in den alten Bäumen.

        Nachtfalter

        huschen über den Mond.

        Sie schweigen

        und lauschen vergebens:

        Nachtigallen singen nur

        für Liebespaare.

         

           

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            Hinterm Haus

             

            Leine mit Wäsche

            im Sommerwind,

            Rasengrün,

            und die vergessene

            Kindertrompete

            aus Goldblech

            im Gras.

             

            Einhorn äugt

            über den Gartenzaun  -

                                               

Kinderpuppen

 

                    Johann Spratte © (1901 – 1991)

      Kinderzeit

       

      Das Geräusch

      der elektrischen Eisenbahn,

      Schiffsmodell,

      und die Puppe

      mit beweglichen Augen

      und Schleifen im Haar.

      (jemand hatte ihr

      den Kopf verdreht)

      Fahrtenmesser

      Mikroskop,

      und das Diplom

      für Freischwimmer,

      lange aufbewahrt

      und vergessen.

      Liebesbriefe,

      heimliche Gedichte,

      vorsorglich verbrannt.

      Es spukt noch

      in Ecken und Laden,

      aber die Jahre

      haben alles fortgefegt.

         

             

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            Freunde

             

            Blätter fallen.

            Freunde die gehn

            kommen nicht wieder,

            und die Blätter

            fallen wie Freunde.

            Es wird Herbst  -

                                                                      

                             

              Johann Spratte © (1901 – 1991)

              Gedächtniskapelle

               

              Sie haben ihre Namen abgegeben,

              den grauen Rock, die Stiefel

              und ihr Bündel Jugend,

              sie brauchen es nicht mehr.

              Nun stehen sie zusammen

              in der Feierstille,

              weiß und wächsern

              mit den hellen Flämmchen,

              und erzählen einander

              von den armen Freuden

              längst verstaubter Jahre.

              Nur manchmal geht ein Flackern

              durch die weißen Reihen,

              wenn vom Schmerzensmund

              der Pieta ein Hauch

              herüberweht.

     

     

        Johann Spratte © (1901 – 1991)

        Abschied

         

        Etwas tut weh.

        Was gewesen

        trägt Trauer.

        Das Versäumte

        hat keinen Namen,

        aber es brennt uns

        die Augen aus.

                *

         

          Johann Spratte © (1901 – 1991)

          Rückblende

           

          Morgens im Nebel

          springt der Motor nicht an,

          es war kalt in der Nacht.

          Später, auf der Autobahn

          Richtung Bremen

          kommt die Sonne durch,

          und du gehst auf

          hundertvierzig.

          Die Reifen singen

          das Lied vom TÜV,

          Landschaften fliegen vorbei

          mit Kuhblick

          und Weidezäunen.

          Rechts der Kiefernwald

          hat keine Jahreszeit,

          aber du denkst an den Sommer

          und an Marion  -  ach ja,

          ihr Feuerzeug

          liegt noch im Handschuhfach  -

       

                                                                                  

       alle  Gedichte aus:   

      Johann Spratte, Zeit der Schwalben.  Gedichte.  Verlag Lechte,  Emsdetten 1975

 

 

              III.

         

        Johann Spratte © (1901 – 1991)

        Der erste Schnee

         

        Es fällt der Schnee

        auf Baum und Strauch,

        der Wind verstummt

        im kalten Hauch,

        der erste Schnee

        fällt auf der Beere Rot,

        nun kommt die weiße Winternot.

        Es fällt der Schnee

        auf meine Hand herab.

        Der erste Schnee

        fällt auf ein frühes Grab.

                     *

         

              Johann Spratte  © (1901 – 1991)

              Nachtfrost im März

               

              Das Mondlicht

              ist ein blanker Hohn.

              Wer sich auf den Kalender

              eingestellt hat,

              bekommt nun kalte Füße.

              die Luft ist eisigklar,

              und zeigt der Frühlingsnacht

              die kalte Schulter

               

                         *

                 Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Der Sommer meiner Kindheit

         

        Der Sommer meiner Kindheit

        duftet nach Holunder

        und getrockneter Kamille.

         

        Der Sommer meiner Kindheit

        flimmert im gelben Sonnenwogen

        reifer Ährenfelder,

        und dunkelt

        in der warmen Abendstille,

        wenn im Haus die Stiege knarrt.

         

        Der Sommer meiner Kindheit

        hat den Sensenblitz der Ernte,

        das schwarze Grollen

        der Gewitter,

        und einen großen,

        gelben Wiesenmond.

 

 

            Johann Spratte  © (1901 – 1991)

            Sommer

             

            Ein Rechen im Grase

            zählt an zehn Fingern

            die Stunden des Nachmittags.

            Sonne malt,

            nur so aus Spielerei,

            Schattenbilder

            auf die weiße Wand

            der Veranda.

            Marienkäfer

            im Vergißmeinnichtbeet

            träumt von warmen

            Mädchennacken.

            Hummel brummt

            ein Lied aus Ostpreußen,

            und die goldenen Kelche

            der Kapuzinerkresse

            blühn vor sich hin.

       

 

        Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Juli

         

        Der Sommer brüstet sich

        mit Saft und Kraft

        und strotzt

        mit goldenen Standarten.

        Am Wege prahlt

        der rote Mohn,

        die Kresse flammt

        im Bauerngarten.

         

        Die ganze Erde

        ist in Glut getaucht,

        es brennt das Korn

        im Sonnenfeuer,

        und riesenhaft am Horizont

        wächst einer Wolke Ungeheuer.

         

                        

            Johann Spratte  © (1901 – 1991)

            Sommerliche Elegie

             

            Rhododendron,

            violette Melancholie.

            Tief dunkelt der Garten

            von Abschied.

            Was wartest du,

            geh in dein Haus

            wo Estrichkühle

            ist und Erinnerung,

            und der Duft noch

            von ihrem schwarzen

            seidenen Haar.

         

                        

        Johann Spratte © (1901 – 1991)

        Amsellied

         

        Auf dem Dach der Vereinsbank

        singt eine Amsel Koloratur.

        Das Lied ist kein Neutöner,

        kein Zwölftöner,

        der liebe Gott selber

        hat es komponiert.

        Noahs Weib

        kannte schon  dieses Lied.

        Karl der Große,

        Heinrich Heine,

        und der Hauptmann von Köpenick

        hörten die Melodie.

        Auch die einsame Frau

        im siebten Ehejahr

        lauscht dem Amsellied.

        Sie öffnet das Fenster weit

        und fliegt ins Abendblau,

        daß ihr Haar wie ein Fahne

        weht über die Dächer der Stadt.

 

 

          Johann Spratte  © (1901 – 1991)

          Herbst im Park

           

          Abendhimmel

          rieselt in die Bäume,

          es funkelt in dem späten Laub.

          Der Wind ist eingeschlafen,

          Kühle irrt umher

          und sucht auf dem

          verlassnen Rasen

          die Spuren deiner Schritte,

          aber es fröstelt in den Gräsern

          das Gewesen.

 

 

              Johann Spratte © (1901 – 1991)

              Corvey

               

              Die alten Mauern

              wärmen sich im Sonnenschein

              und warten weiter in die Zeit.

              Manchmal tönt es bechern

              von geborstner Bronze.

              Grauer Mönche Schattenreihen

              geistern durch die düstren

              Säulengänge zu den Metten,

              und die Steine summen

              benediktus Domine.

               

              Blieb im Ohr

              der Schrei des Falken,

              blieb im Blick

              des Stromes Eile,

              blieb in meiner Hand

              das grüne Blatt

              von einer Linde –

 

 

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            November

             

            Die Tage taumelten

            wie Trunkenbolde,

            voll vom süßen

            Most des Sommers

            in den Herbst.

            Nun ist der Rausch vorbei,

            die Nächte bringen Klarheit,

            und mit kaltem Finger

            zeigt der Mond

            auf den Dezember.

 

 

                                Johann Spratte  © (1901 – 1991)

                Dorffriedhof

                 

                Die hier liegen

                unter eingesunknen Steinen,

                unter schiefen Eisenkreuzen,

                unter Hügeln mit

                Vergißmeinnicht und wildem Klee,

                warten länger schon

                als ihr armes Leben währte

                auf die Auferstehung.

                 

                Einmal werden

                die Posaunen Gottes,

                lauter als zusammen

                die Kapellen

                ihres Schützenzuges

                und der Feuerwehr

                sie in ihren Gräbern wecken,

                und, begleitet mit Geläut

                und Böllerdröhnen,

                werden ihre Namen

                aufgerufen.

                                          Grab Johann Spratte_2013_red

           Das Grab des Autors und seiner Frau - auf dem Haster Friedhof

           

          Johann Spratte © (1901 – 1991)

          Tod eines Kindes

           

          Warum ist niemand

          mitgegangen

          als der fremde Vogel

          vor dem Fenster

          deinen Namen rief,

          und dich ins Dunkel lockte

          mitten in der Nacht –

         

                                                       

        Johann Spratte © (1901 – 1991)

        Das tote Kind

         

        Am Morgen kamen die Kinder vom Schäfer

        noch einmal zum Abschied her,

        standen frierend am Sarge

        und sagten nichts mehr.

         

        Legten nur stumm und mit frostigen Händen

        dem Kinde zu Häupten, zu Fuß,

        bunte Perlen und Bilder

        als Gabe und Gruß.

         

        Blieben dann wohl noch ein Weilchen und bebten

        vor Kälte und Traurigkeit - -

        o, wie fror wohl das Kindlein

        in dem Totenkleid.

                                                                                                            

                        

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            Nach der Beerdigung

             

            Sie blicken alle

            in die blinden Spiegel

            der Gesichter

            und zählen ihre Jahre.

            Es ist ein schwarzes

            Wiedersehen

            mit Streuselkuchen

            und Gedenken,

            mit Namen und Erinnerungen,

            und die Kaffeetassen klappern

            das Geläut

            der Hinterbliebenen.

 

 

               Johann Spratte © (1901 – 1991)

              In ein Kinderalbum

               

              Der Wind

              kommt rot

              aus dem Abendrot.

              Nachts ist der Wind

              schwarz wie die Nacht.

              Über die grüne Wiese

              weht ein grüner Wind.

              Der blaue Wind

              kommt aus dem blauen

              Sommerhimmel,

              der weiße Wind

              weht überall.

              Aber der goldene Wind

              weht in deinem

              goldenen Haar –

 

 

        Johann Spratte © (1901 – 1991)

        Nach einer Zeit

         

        Das Dunkel blieb.

        Des Todes schwarze Weisheit

        will sich nicht erhellen.

            

          Johann Spratte © (1901 – 1991)

          Dat Kindken

           

          Kiek es an dat lüttke Wichtken:

          Oach, wat häfft’n sööt Gesichtken,

          kann oal lachen, tütt en Snütken,

          jüst as use Tante Drüdken!

           

          “Gans de Mamme!” segg Alwine,

          un dat ment auk Naubers Trine.

         

          Pape löt de Fruslüe snaken

          un he geeit nich van de Raken, 

          tändelt met en rosa Bändken

          Mamme hölt dat lütke Händken.

           

          Kindken slöpp, nu man gans stillken,

          nauhiär krig et wier sien Püllken!

                      

     

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            Härwst

             

            De Hiärwstwiend strick dür de Blüsen

            un driff dat Lauf vo sick hiär,

            et huult in de aulen Eeiken,

            o Minske, wat es dat’ n Wiär!

             

            Nu löt et weggen und huulen,

            et is doach oalles vobi.

            Wi häwwet enanner vogieten,

            ick di, un du sicher auck mi -

             

                       *

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

            Todesanzeigen

            Auf der letzten Seite

            unserer Heimatzeitung

            geben die Toten

            sich ein Stelldichein:

             

            Wilhelm Schmid,

            Karola Meier,

            Malermeister Pott,

            Rentner Habermann,

            Witwe Sander. - 

             

            Ich kenne dann wohl

            den einen, den anderen,

            Kleine Leute

            wie du und ich.

            Große Leute

            sterben in der Frankfurter.

 

                                  

          Johann Spratte © (1901 – 1991)

          Dämmernder Garten

          Rasenschnitt, 

          herber Geruch der Stille. 

          Niemand wartet im Haus,

          alles ist lange her und vergessen.

           

          Der Garten ist fremd

          und macht dich allein.

          In den dunkelnden Höhlen

          der Brombeerbüsche

          hausen

          die fortgegangenen Freunde.                                    

 

 

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

             Nach all den Jahren

             

            Du weißt:

            Alles ist gesagt und getan.

            Es gibt kein Kommen mehr,

            und kein Abschiednehmen.

            Was nun sich begibt

            geht ohne Spuren.

            Auf fernen Bildern

            dunkelt das Vergessen.

         

                 

            Johann Spratte © (1901 – 1991)

             

            ICH WILL NICHT TRAUERN,

            vielleicht ist alles nur ein Traum,

            und niemand weiß

            wie lange Träume dauern –

                              *

             aus:

                      Johann Spratte, Gelber Wiesenmond. Ausgewählte Gedichte. Verlag Lechte, Emsdetten 1980

 

Johann Spratte Weg

 

                                                                                          Foto: Erich Adler © Hagen a. T. W. -  Februar 2011

 

              Johann Spratte ©

              Kleine Stadt

               

              Die kleine Stadt 

              kennt dich nicht mehr.  

              Fliederduft

              einer törichten Liebe,  

              mit Mondlicht

              und Heinrich Heine, 

              mit erstem Kuß 

              und Goldwasserlikör: 

              Was weiß davon noch 

              die kleine Stadt,

              und das süße Mädchen 

              aus der Marktdrogerie 

              ist schon lange Rentnerin

 

 

                IV.

 

            Johann Spratte  © (1901 – 1991)

            Kumm no Hagen

             

            Kumm, besök us mol in Hagen,

            brink de Kinner mit;

            glöws nich, wat de Kiersken blögget, 

            wiet un siet is oalles witt.

             

            Kiek di es in Hagen ümme,

            ’t is ‘ne raine Pracht,

            un dat ganße Kierskenblöggen       (= Kirschblüte)

            keim gans stilllken, uöwer Nacht.

             

            Pape ment, in oall de Joahren

            harre he nich seein,

            dat sau witt de Kierskenbäume

            stönnen up den Anneweein.          ( = Ackerrain)

             

            Kumm, besök us mol in Hagen,

            ’t is jä gar nich wiet,

            lange duert nich mähr dat Blöggen,

            Sönndag is et jüst noa Tiet.

             

                           * 

           

          Johann Spratte  © (1901 – 1991)

          Joahrestieten

           

          Wänn Fröhjoahr is, wänn Fröajahr is,

          dann löp met blaute Föitkes

          mien Änneken in’t grööne Gräs

          un plücket de Tilöütkes. (= Primeln)

           

          Wänn Sommer is, wänn Sommer is,

          wänn heeit de Sünne glögget,

          dann steeit dat Köerden in de Glout,   (= Korn)

          un de Latuzken blögget. (= Kapuzinerkresse blüht)

           

          Wänn Hiärwstdag is, wänn Hiärwastdag is,

          dann geeit’ t in de Katuffel,

          dann danset up’ n Schützenfest

          Marie met Jan un Stuffel.

           

          Wänn Winter is, wänn Winter is,

          dann fänk et an to sniggen,

          dann lig de Buer in’ n warmen Durk (= Schrankbett)

          un auk de Snei blif liggen.

 

             

      Johann Spratte  © (1901 – 1991)

      Tilöütkes blögget

       

      Tilöutkes, Tiöütkes!        (= Primeln)

      Met blaue Föutkes

      twas dür de Wiske          (= quer durch die Wiese)

      in’t Gräs sind wi loupen,

      un höerden van wieten

      den Kuckuck roupen.

 

                                                      

        Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Pingssen

         

        Birkenblüsen an de Düern,             ( = Birkensträucher)

        un de Fenster blink und blank.

        Sünnenschien un Glockenklank:

        Sönndag is, un Pingßen.

 

        Buten unnern blowen Hiemel

        is de Welt sau bunt un wiet.

        Kinner, dat is Maientiet,

        Kinner, dat is Pingßen.

         

        Pingßen, dat is Lust und Liäben,

        geit an’t Hatte, an’t Gemöt,             (= Herz)

        un sogar de Finken flöit’t:

        ping ping ping ping Pingßen!

 

                                                               

              Johann Spratte  © (1901 – 1991)

              Dat aule Beld

               

              Düt is Familge Müölenwäert,

              hier is se, Kopp an Kopp,

              met bestet Sönndagstüch bekläert,

              et is’n grauten Tropp.

               

              De Bröers un Süsters, niegen Stück,

              tohaupe up düt Beld,

              de häwwet sick met stueren Blick

              vörn Fotokasten stellt.

               

              „Dat Vügelken flüg glieks herut,

              nu Kinner, giewet acht!“

              Se keiken oalle lieke ut,

              häwwt an den Vuegel dacht.

               

              Dat Vügelken hät se vopasst,

              fleug woall to snell vobi.

              Sau flügg auk use Tiet met Hast

              vobi an di un mi.

 

                                                     

        Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Dat Baromeeiter fällt

         

        Jau, dat Baromeeiter fällt,

        un de Roggen steeit in Stiegen.

        Gott, giff muorn noa goet Wiär,

        dann sall sick woll oalles riegen.

         

        Muorn is et jüst noa Tiet,

        giff toon Inföhrn dienen Siängen,

        dat de Roggen dreuge blif,

        dorüm lot et muorn nich riängen.

 

 

          Johann Spratte  © (1901 – 1991)

          Dat slächte wiär

           

          Et riänget un riänget,                       (= regnet)

          et riänget van buomen dale.             (= von oben herab)

          Du kris keinen Rüen vo de Düern.

          Man höert den ganßen langen Dag

          blos üöwer dat ausige Wiär noa küern.

          Jau, de Minsken sind niemols tofriär,

          oawer ick denke: düt slächte Wiär

          is immer noa biäter os gar kein Wiär.

           

                                                                                   

        Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Use Huus

         

        Düt Huus hät fäste Müern,

        hölt Sturm un Riängen stand,       (= Regen)

        et kick met blanke Fenster

        vognägt int wiete Land.

         

        De Meesters un Gesellen

        hät goe Arbeet daun,

        de Timmerlü un Müerkers,

        de kreigen iähren Lauhn.

         

        In Kuffers un in Schränken:

        Posleggen, Pött’ un Pann,        (= Porzellan)

        de Kammer met de Bettstie

        un Tüch fo Wief un Mann.

         

        Un tüsken Berrebühren      (= Bettzeug)

        vöwahrt de Frau iähr Geld.

        Ick weeit nich es wau vieele,

        wi hätt es noa nich tellt.

         

        Fo’n Winter häwt wi suorget

        met Speck un Suerkaulfatt,

        un kuomt moal de Vöwandten:

        wi krieget oalle satt.

         

        Et kuomet to Besööke

        de Igel un de Muus,

        un aumes sink dat Immken

        bi us in’n Stiegenhuus.

         

        In’n Goarden achtern Huuse,

        doa blögget Georgien,

        Kamälle un Lautuzken,

        Tilöutkes un Jasmin.

         

        Un oalles wat  wi häwweet,

        dat kümp ut Gottes Hand.

        Nu mag he uns bewahren

        vo Poletik un Brand.

 

 

        Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Amerika

         

        Een Schep föhrt noa Amerika,

        un met dat Schep föhrt Erika.

        Oach Erika, oach Erika,

        wat wus du in Amerika?

        Blief leiwer hier bi dinen Hein,

        dann is de Hein nich sau allein!

         

        Oach Erika, oach Erika,

        worümmer jüst Amerika?

        Amerika, dat is sau wiet,

        dat lig gans up de annern Siet.

        Doa bist du dann sau gans allein,

        häs Heimweh noa de leiwen Hein.

         

         

                Johann Spratte  © (1901 – 1991)

                De Ehestand

                 

                De Ehestand häff siene Nücken,

                man mot sick manges düchtig bücken.

                Et kümp moal düt, et kümp moal datte,

                moal snell, moal lurig sleit dat Hatte.

                De Tiet geit hen un kümp nich trügge.

                Up eeinmoaol sind de Blagen flügge,

                un fanget auk oal an to friggen.

                Dat mot woal an de Wichter liggen.

                 

                                                              

          Johann Spratte  © (1901 – 1991)

          Lieke ut          (= geradeaus)

           

          Loat de Lüe män immer snaken,

          denken is en anner Köern.

          Un wenn eener raust un schült:

          mosse nich drup höern.

           

          Goa män dinen eeigenen Pad,

          loup män immer lieke ut.

          Woa sick twee metnanner schlot,

          doa hoalt di herut!

           

           

        Johann Spratte  © (1901 – 1991)

        Dezember

         

        De Kräggen strieket                 (= Kraien – Krähen)

        üöwer de Wintersaut,

        et früs, un achtern Holde,

        doa is de Himmel raut.

         

        In Büske und Hiegen                  (= Hecken)

        süselt de Wiend noa sacht;

        Niewel stig in de Wiske,

        dat gif ne kaule Nacht.  

                             

 

            Johann Spratte  © (1901 – 1991)

            Min Duorf

             

            Min Duorp is nich mähr dat aule,

            dat Duorp doa unnern an ’n Biäge:

            Wi häwwet us beeide vogieeten,

            ick wör woall to lange wiäge.

             

            Et kik sik keiner mähr ümme,

            goaht oalle früömt iähre Strauten.

            Et kennt sick in usen Duorpe

            eenanner blos noa de Dauten.

             

                                                      

      Johann Spratte  © (1901 – 1991)    

       Doahen

       

      Dat Water pülsket achtern Schütt, 

      dat swatte Water flütt un flütt, 

      un flütt un krüselt siene Wellen,

      un weeit sau viele tou votellen.

      Mariechen, woa is use Tiet?

       s oalles anners, wiet un siet.

      De Tiet vogönk met dat un düt,

      sau wie dat Water flütt un flütt.

                                                                 

 

            

            Johann Spratte  © (1901 – 1991)

            Poeten

             

            Wän Fröhjoahr is, dat is de Tiet,

            doa dichtet de Poeten,

            dat üöwerall de Knospen springet,

            und dat de Vüegel singet.

             

            Dat met de Knospen mag wol sien,

            doach wat Poeten nich begriepet:

            De Vüegel singet nich, se piepet!

 

 

           aus: Johann Spratte, Das alte Bild. Gedichte in Platt, Verlag Lechte Emsdetten, 1988

 

          Weitere Gedichte:

          Ballade vom Suppenkraut (aus: Gelber Wiesenmond, S. 90  (Kunst-) Balladen

          Dat aule Beld (aus: Gelber Wiesenmond, S. 84)  Motivkreis  Dinggedicht

          Dat mag woal sau sien (aus: Gelber Wiesenmond, S. 79) Motivkreis Humor

          De Doanenvugel (aus: Gelber Wiesenmond, S. 82) Form Schauerballade

          Der Chapeauclaque (aus: Zeit der Schwalben, S. 30)  Motivkreis  Dinggedicht

          Die Alte Spieluhr (aus: Zeit der Schwalben, S. 8f)  Motivkreis  Dinggedicht

          Heimkehr (aus: Gelber Wiesenmond, S. 20)  Motivkreis  Krieg

          Herbst (aus: Gelber Wiesenmond, S. 97)  Motivkreis Herbst

          Lesebuchgedicht (aus: Nach all den Jahren, S. 177) Motivkreis Humor

          Mamme (aus: Gelber Wiesenmond, S. 85)  Motivkreis  Mensch

          Sommer (aus: Gelber Wiesenmond, S. 96)  Motivkreis Sommer

          Wiehnachten (aus: Das alte Bild. Gedichte in Platt., S. 39) Motivkreis Feiern)

          Winter (aus: Gelber Wiesenmond, S. 98)  Motivkreis Winter

           

     Ich danke ganz herzlich  dem Sohn des Autors, Herrn Wido Spratte, Wallenhorst/ Lechtingen, 

    für die freundliche Abdruckerlaubnis;  Februar 2011.

          

                     

         Eine historische Aufnahme der  jungen Dichterrunde in Haste; 28. 11. 1937 :

     Albert Hiemer  (von links n. r.) - Eugen Spratte - Johann Spratte - Karl Heinrich Hiemer

 

Dichterrunde Hiemer_Spratte

          > In memoriam Johann Spratte

                   PDF - Version

 (alphabetische Liste und nähere Quellenangaben)

 

 

 

Fotorechte Wido Spratte

> Albert Hiemer

> Karl H. Hiemer

> Krieg