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In memoriam Johann Spratte (1901 – 1991)
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Gartencafé
Julisonne,
goldene Gedanken
des Nachmittags.
Unter bunten Baldachinen
Sommers Himbeergeläut.
Schneehäubchen,
geschäftige Schmetterlinge,
flattern zwischen
pastellenen Stühlen.
Rote Pudelschleife,
und Madames
zärtliches Lachen.
Die alte Kastanie
wickelt versonnen ihr Garn -
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Abendhimmel
Gehen die Lichter an
in der Stadt,
wächst alles
wuchtig und schwarz.
Keiner will diesen Himmel glauben,
der wie eine Ansichtskarte ist
aus San Salvadore oder Tessin.
Aber eine einsame Frau
am Fenster ihrer Mansarde
denkt an Don Pedro
in dem Buch aus der Leihbücherei,
und der Himmel verdunkelt in Rot
wie ein Ballade.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Treibholz
Kalendernotizen,
Daten, Termine,
eingehalten,
oder verpaßt.
Neunzehnter Mai
und sechster November,
achtuhrdreißig
und zwischen neun und zehn.
Notizen, Termine,
vorüber, gewesen.
Gesichter und Namen,
und alte Briefe:
Lieber John!
Wer war Susanne?
Gesichter und Namen,
fortgeworfene Traurigkeiten,
Rest einer Sehnsucht,
Gedanken und Träume,
Alles über die Reling
der Jahre gespült,
zerschlagen vom Sturm,
zerfressen
vom bitteren Salz
der Augen.
Johann Spratte - 1985 Fotorechte © Wido Spratte
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Diskussion
Wir waren zu dreien:
Mein Freund,
eine Flasche Gin, und ich.
In vorgerückter Stunde
kam noch der liebe Gott dazu
und Immanuel Kant.
Letzterer setzte sich abseits
und kiebitzte
hinter unseren Rücken.
Wir führten ein langes
erregtes Gespräch,
mein Freund,
der liebe Gott, und ich.
Hin und wieder
mischte die Flasche sich ein
mit geistreichen Witzen,
und manchmal machte Kant
eine bissige Bemerkung,
bis spät in der Nacht,
als wir uns total zerstritten
die Flasche verstummte.
Immanuel Kant
war schon vorher gegangen,
nur den lieben Gott
wurden wir nicht wieder los.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Juli
Der Sommer brüstet sich
mit Saft und Kraft
und strotzt
mit goldenen Standarten.
Am Wege prahlt
der rote Mohn,
die Kresse flammt
im Bauerngarten.
Die ganze Erde
ist in Glut getaucht,
es brennt das Korn
im Sonnenfeuer,
und riesenhaft am Horizont
wächst einer Wolke Ungeheuer.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Amsellied
Auf dem Dach der Vereinsbank
singt eine Amsel Koloratur.
Das Lied ist kein Neutöner,
kein Zwölftöner,
der liebe Gott selber
hat es komponiert.
Noahs Weib
kannte schon dieses Lied.
Karl der Große,
Heinrich Heine,
und der Hauptmann von Köpenick
hörten die Melodie.
Auch die einsame Frau
im siebten Ehejahr
lauscht dem Amsellied.
Sie öffnet das Fenster weit
und fliegt ins Abendblau,
daß ihr Haar wie ein Fahne
weht über die Dächer der Stadt.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Herbst im Park
Abendhimmel
rieselt in die Bäume,
es funkelt in dem späten Laub.
Der Wind ist eingeschlafen,
Kühle irrt umher
und sucht auf dem
verlassnen Rasen
die Spuren deiner Schritte,
aber es fröstelt in den Gräsern
das Gewesen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Corvey
Die alten Mauern
wärmen sich im Sonnenschein
und warten weiter in die Zeit.
Manchmal tönt es bechern
von geborstner Bronze.
Grauer Mönche Schattenreihen
geistern durch die düstren
Säulengänge zu den Metten,
und die Steine summen
benediktus Domine.
Blieb im Ohr
der Schrei des Falken,
blieb im Blick
des Stromes Eile,
blieb in meiner Hand
das grüne Blatt
von einer Linde –
Johann Spratte © (1901 – 1991)
November
Die Tage taumelten
wie Trunkenbolde,
voll vom süßen
Most des Sommers
in den Herbst.
Nun ist der Rausch vorbei,
die Nächte bringen Klarheit,
und mit kaltem Finger
zeigt der Mond
auf den Dezember.
Das Grab des Autors und seiner Frau - auf dem Haster Friedhof
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Tod eines Kindes
Warum ist niemand
mitgegangen
als der fremde Vogel
vor dem Fenster
deinen Namen rief,
und dich ins Dunkel lockte
mitten in der Nacht –
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Das tote Kind
Am Morgen kamen die Kinder vom Schäfer
noch einmal zum Abschied her,
standen frierend am Sarge
und sagten nichts mehr.
Legten nur stumm und mit frostigen Händen
dem Kinde zu Häupten, zu Fuß,
bunte Perlen und Bilder
als Gabe und Gruß.
Blieben dann wohl noch ein Weilchen und bebten
vor Kälte und Traurigkeit - -
o, wie fror wohl das Kindlein
in dem Totenkleid.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Nach der Beerdigung
Sie blicken alle
in die blinden Spiegel
der Gesichter
und zählen ihre Jahre.
Es ist ein schwarzes
Wiedersehen
mit Streuselkuchen
und Gedenken,
mit Namen und Erinnerungen,
und die Kaffeetassen klappern
das Geläut
der Hinterbliebenen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Nach einer Zeit
Das Dunkel blieb.
Des Todes schwarze Weisheit
will sich nicht erhellen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Dat Kindken
Kiek es an dat lüttke Wichtken:
Oach, wat häfft’n sööt Gesichtken,
kann oal lachen, tütt en Snütken,
jüst as use Tante Drüdken!
“Gans de Mamme!” segg Alwine,
un dat ment auk Naubers Trine.
Pape löt de Fruslüe snaken
un he geeit nich van de Raken,
tändelt met en rosa Bändken
Mamme hölt dat lütke Händken.
Kindken slöpp, nu man gans stillken,
nauhiär krig et wier sien Püllken!
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Härwst
De Hiärwstwiend strick dür de Blüsen
un driff dat Lauf vo sick hiär,
et huult in de aulen Eeiken,
o Minske, wat es dat’ n Wiär!
Nu löt et weggen und huulen,
et is doach oalles vobi.
Wi häwwet enanner vogieten,
ick di, un du sicher auck mi -
*
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Todesanzeigen
Auf der letzten Seite
unserer Heimatzeitung
geben die Toten
sich ein Stelldichein:
Wilhelm Schmid,
Karola Meier,
Malermeister Pott,
Rentner Habermann,
Witwe Sander. -
Ich kenne dann wohl
den einen, den anderen,
Kleine Leute
wie du und ich.
Große Leute
sterben in der Frankfurter.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Dämmernder Garten
Rasenschnitt,
herber Geruch der Stille.
Niemand wartet im Haus,
alles ist lange her und vergessen.
Der Garten ist fremd
und macht dich allein.
In den dunkelnden Höhlen
der Brombeerbüsche
hausen
die fortgegangenen Freunde.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Nach all den Jahren
Du weißt:
Alles ist gesagt und getan.
Es gibt kein Kommen mehr,
und kein Abschiednehmen.
Was nun sich begibt
geht ohne Spuren.
Auf fernen Bildern
dunkelt das Vergessen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
ICH WILL NICHT TRAUERN,
vielleicht ist alles nur ein Traum,
und niemand weiß
wie lange Träume dauern –
*
aus:
Johann Spratte, Gelber Wiesenmond. Ausgewählte Gedichte. Verlag Lechte, Emsdetten 1980
Foto: Erich Adler © Hagen a. T. W. - Februar 2011
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Kumm no Hagen
Kumm, besök us mol in Hagen,
brink de Kinner mit;
glöws nich, wat de Kiersken blögget,
wiet un siet is oalles witt.
Kiek di es in Hagen ümme,
’t is ‘ne raine Pracht,
un dat ganße Kierskenblöggen (= Kirschblüte)
keim gans stilllken, uöwer Nacht.
Pape ment, in oall de Joahren
harre he nich seein,
dat sau witt de Kierskenbäume
stönnen up den Anneweein. ( = Ackerrain)
Kumm, besök us mol in Hagen,
’t is jä gar nich wiet,
lange duert nich mähr dat Blöggen,
Sönndag is et jüst noa Tiet.
*
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Joahrestieten
Wänn Fröhjoahr is, wänn Fröajahr is,
dann löp met blaute Föitkes
mien Änneken in’t grööne Gräs
un plücket de Tilöütkes. (= Primeln)
Wänn Sommer is, wänn Sommer is,
wänn heeit de Sünne glögget,
dann steeit dat Köerden in de Glout, (= Korn)
un de Latuzken blögget. (= Kapuzinerkresse blüht)
Wänn Hiärwstdag is, wänn Hiärwastdag is,
dann geeit’ t in de Katuffel,
dann danset up’ n Schützenfest
Marie met Jan un Stuffel.
Wänn Winter is, wänn Winter is,
dann fänk et an to sniggen,
dann lig de Buer in’ n warmen Durk (= Schrankbett)
un auk de Snei blif liggen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Tilöütkes blögget
Tilöutkes, Tiöütkes! (= Primeln)
Met blaue Föutkes
twas dür de Wiske (= quer durch die Wiese)
in’t Gräs sind wi loupen,
un höerden van wieten
den Kuckuck roupen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Pingssen
Birkenblüsen an de Düern, ( = Birkensträucher)
un de Fenster blink und blank.
Sünnenschien un Glockenklank:
Sönndag is, un Pingßen.
Buten unnern blowen Hiemel
is de Welt sau bunt un wiet.
Kinner, dat is Maientiet,
Kinner, dat is Pingßen.
Pingßen, dat is Lust und Liäben,
geit an’t Hatte, an’t Gemöt, (= Herz)
un sogar de Finken flöit’t:
ping ping ping ping Pingßen!
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Dat aule Beld
Düt is Familge Müölenwäert,
hier is se, Kopp an Kopp,
met bestet Sönndagstüch bekläert,
et is’n grauten Tropp.
De Bröers un Süsters, niegen Stück,
tohaupe up düt Beld,
de häwwet sick met stueren Blick
vörn Fotokasten stellt.
„Dat Vügelken flüg glieks herut,
nu Kinner, giewet acht!“
Se keiken oalle lieke ut,
häwwt an den Vuegel dacht.
Dat Vügelken hät se vopasst,
fleug woall to snell vobi.
Sau flügg auk use Tiet met Hast
vobi an di un mi.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Dat Baromeeiter fällt
Jau, dat Baromeeiter fällt,
un de Roggen steeit in Stiegen.
Gott, giff muorn noa goet Wiär,
dann sall sick woll oalles riegen.
Muorn is et jüst noa Tiet,
giff toon Inföhrn dienen Siängen,
dat de Roggen dreuge blif,
dorüm lot et muorn nich riängen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Dat slächte wiär
Et riänget un riänget, (= regnet)
et riänget van buomen dale. (= von oben herab)
Du kris keinen Rüen vo de Düern.
Man höert den ganßen langen Dag
blos üöwer dat ausige Wiär noa küern.
Jau, de Minsken sind niemols tofriär,
oawer ick denke: düt slächte Wiär
is immer noa biäter os gar kein Wiär.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Use Huus
Düt Huus hät fäste Müern,
hölt Sturm un Riängen stand, (= Regen)
et kick met blanke Fenster
vognägt int wiete Land.
De Meesters un Gesellen
hät goe Arbeet daun,
de Timmerlü un Müerkers,
de kreigen iähren Lauhn.
In Kuffers un in Schränken:
Posleggen, Pött’ un Pann, (= Porzellan)
de Kammer met de Bettstie
un Tüch fo Wief un Mann.
Un tüsken Berrebühren (= Bettzeug)
vöwahrt de Frau iähr Geld.
Ick weeit nich es wau vieele,
wi hätt es noa nich tellt.
Fo’n Winter häwt wi suorget
met Speck un Suerkaulfatt,
un kuomt moal de Vöwandten:
wi krieget oalle satt.
Et kuomet to Besööke
de Igel un de Muus,
un aumes sink dat Immken
bi us in’n Stiegenhuus.
In’n Goarden achtern Huuse,
doa blögget Georgien,
Kamälle un Lautuzken,
Tilöutkes un Jasmin.
Un oalles wat wi häwweet,
dat kümp ut Gottes Hand.
Nu mag he uns bewahren
vo Poletik un Brand.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Amerika
Een Schep föhrt noa Amerika,
un met dat Schep föhrt Erika.
Oach Erika, oach Erika,
wat wus du in Amerika?
Blief leiwer hier bi dinen Hein,
dann is de Hein nich sau allein!
Oach Erika, oach Erika,
worümmer jüst Amerika?
Amerika, dat is sau wiet,
dat lig gans up de annern Siet.
Doa bist du dann sau gans allein,
häs Heimweh noa de leiwen Hein.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
De Ehestand
De Ehestand häff siene Nücken,
man mot sick manges düchtig bücken.
Et kümp moal düt, et kümp moal datte,
moal snell, moal lurig sleit dat Hatte.
De Tiet geit hen un kümp nich trügge.
Up eeinmoaol sind de Blagen flügge,
un fanget auk oal an to friggen.
Dat mot woal an de Wichter liggen.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Lieke ut (= geradeaus)
Loat de Lüe män immer snaken,
denken is en anner Köern.
Un wenn eener raust un schült:
mosse nich drup höern.
Goa män dinen eeigenen Pad,
loup män immer lieke ut.
Woa sick twee metnanner schlot,
doa hoalt di herut!
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Dezember
De Kräggen strieket (= Kraien – Krähen)
üöwer de Wintersaut,
et früs, un achtern Holde,
doa is de Himmel raut.
In Büske und Hiegen (= Hecken)
süselt de Wiend noa sacht;
Niewel stig in de Wiske,
dat gif ne kaule Nacht.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Min Duorf
Min Duorp is nich mähr dat aule,
dat Duorp doa unnern an ’n Biäge:
Wi häwwet us beeide vogieeten,
ick wör woall to lange wiäge.
Et kik sik keiner mähr ümme,
goaht oalle früömt iähre Strauten.
Et kennt sick in usen Duorpe
eenanner blos noa de Dauten.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Doahen
Dat Water pülsket achtern Schütt,
dat swatte Water flütt un flütt,
un flütt un krüselt siene Wellen,
un weeit sau viele tou votellen.
Mariechen, woa is use Tiet?
s oalles anners, wiet un siet.
De Tiet vogönk met dat un düt,
sau wie dat Water flütt un flütt.
Johann Spratte © (1901 – 1991)
Poeten
Wän Fröhjoahr is, dat is de Tiet,
doa dichtet de Poeten,
dat üöwerall de Knospen springet,
und dat de Vüegel singet.
Dat met de Knospen mag wol sien,
doach wat Poeten nich begriepet:
De Vüegel singet nich, se piepet!
Weitere Gedichte:
Ballade vom Suppenkraut (aus: Gelber Wiesenmond, S. 90 (Kunst-) Balladen
Dat aule Beld (aus: Gelber Wiesenmond, S. 84) Motivkreis Dinggedicht
Dat mag woal sau sien (aus: Gelber Wiesenmond, S. 79) Motivkreis Humor
De Doanenvugel (aus: Gelber Wiesenmond, S. 82) Form Schauerballade
Der Chapeauclaque (aus: Zeit der Schwalben, S. 30) Motivkreis Dinggedicht
Die Alte Spieluhr (aus: Zeit der Schwalben, S. 8f) Motivkreis Dinggedicht
Heimkehr (aus: Gelber Wiesenmond, S. 20) Motivkreis Krieg
Herbst (aus: Gelber Wiesenmond, S. 97) Motivkreis Herbst
Lesebuchgedicht (aus: Nach all den Jahren, S. 177) Motivkreis Humor
Mamme (aus: Gelber Wiesenmond, S. 85) Motivkreis Mensch
Sommer (aus: Gelber Wiesenmond, S. 96) Motivkreis Sommer
Wiehnachten (aus: Das alte Bild. Gedichte in Platt., S. 39) Motivkreis Feiern)
Winter (aus: Gelber Wiesenmond, S. 98) Motivkreis Winter
Ich danke ganz herzlich dem Sohn des Autors, Herrn Wido Spratte, Wallenhorst/ Lechtingen,
für die freundliche Abdruckerlaubnis; Februar 2011.
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