Dagmar Nick (* 1926)
Dagmar Nick (* 1926)
Fazit
So tot, wie du scheinst,
bist du das Einzige,
was noch lebt in mir;
öffne das Schloß, deine,
unsre Verriegelung,
blättre mich auf: zwischen
allen Seiten, von Komma
zu Komma, bist du zu finden,
mein Lebensgeschenk.
Wie sollte ich dich nicht lieben,
so tot, wie du bist.
Dagmar Nick (* 1926)
Letzte Bilder
Die Gewitterwand und der Stau
der vertrauten Bilder dahinter
samt den Schamanen mit ihren
abgenutzten Beschwörungsformeln.
Kein Innehalten im Näherrücken
des Undurchschaubaren.
Der erwartete Scherwind, der dich
beiseite fegt wie ein Papier,
das du beschriften wolltest.
Es war schön hier.
Ich werde vergessen.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Zeitlos
Nur noch der Raum,
die ermeßliche Ferne, während
die Zeit bereits aufgelöst
scheint, eine zersetzte Essenz
aus einem Jahrhundert, in dem
wir verschwanden.
Kein Warten mehr, keine Gewißheit
eines anderen Morgens, zeit-
loses Erwachen und Schlafen und
die hämmernde Angst, unversehens
die Wand des Vakuums
zu berühren.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Zerbrochene Sanduhr
Außer Kraft gesetzt
die geordnete Zeit.
Die Tage haben die Namen
abgelegt, Herkunft und
Künftiges. Verfallene Ziffern.
Deine Briefe bleiben
von jetzt an undatiert,
im zerknitterten Licht
die Botschaft unlesbar.
In dieser Handvoll Sand:
ein paar Scherben, konkave
Verspiegelung, der Abdruck
einer zerrissenen Lebenslinie.
Bis der Wind kommt.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Immer wieder
Dir auf dem Herzen liegen,
dem meinen schräg gegenüber,
deinen Pelz spüren beim Atmen,
deine Sprache erlernen,
Silbe für Silbe dir
von der Haut buchstabieren
und das Wort danke
so lange wiederholen dürfen,
bis alle Alphabete der Welt
erschöpft sind und wir
uns wortlos erkennen.
Dagmar Nick (* 1926)
Nachruf
Von deiner Barmherzigkeit
lebte die Luft, die ich
atmete, und wenn ich den Fuß
auf den Stacheldraht setzte,
heiltest du meine Wunden,
bevor ich sie spürte.
Selbst als dein Körper
gelähmt war bis in die Stimmbänder,
riß deine Kraft mich zurück
von der Kante des Kliffs: allein
deine Augen bewahrten mich
vor dem Tod.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Rialtobrücke. Carne vale
Die Denk-Schrift
exakt hinter der Larve,
kein Jota zur Seite gerückt,
eine Festung für den Verrat.
Auch das Lächeln darunter
ist eine Fälschung. Die Rechnung
geht auf. Die Verführung. Bis
unversehens deine Sterblichkeit
zuschlägt, ein Fausthieb
ins schirmende Bild, und
dir der Nächste die Maske
abnimmt, das hübsche Stück
Stoff für ein Album: das Alphabet
der Liebesbesessenheit jetzt
lesbar wie der Ruf nach dem Tod.
Er kam auf Bestellung.
Dagmar Nick (* 1926)
Wolken
Auch der Versuch, auf Wolken
zu gehen, gelang. Kein Absinken
an deiner Seite. Vielleicht
war ich schon ohne Gewicht
im Ungleichmaß unseres Schrittes,
fußspitzenhoch wie beim Küssen
vorm Abschied, vielleicht
ist es ein Irrtum, zu glauben,
Wolken bestünden aus etwas andrem
als Liebe.
Dagmar Nick (* 1926)
Unart der Liebe
Die Welt hebst du
nicht aus den Angeln.
Auch nicht mein Herz.
Doch die Schattenwand,
die mich umgibt,
öffnest du jeden Morgen
um einen Spalt,
und das Licht,
das hereinfällt,
bist du.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Postkarte aus der Ägäis
Aus welcher Welt
kam deine Stimme, durchbrochen
vom Krachen der Brandung,
dem Gelächter Poseidons,
wenn die buntgeschnäbelten Schiffe
heckabwärts gurgeln. Wirf mir
noch einen so hellblauen Felsen
aus dem Hellashimmel herab,
postkartenschön. Ich könnte
darunter glücklich sein,
so oder so.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Hinterlassenschaft
In wessen Gedächtnis
bleiben wir, Stimme und Wortlaut,
ein hingezogener Schrei hinter
Gittern und das erschrockene Schweigen
danach. Wer bewahrt so viel
Flüchtigkeit, unsre entkernten
Gestalten, Kostüme, in denen wir
ein vermeintliches Leben erfanden.
Wie schnell sich das abgespult hat
von den Kinderschuhen auf Zelluloid,
Schmalspur, vergessene Negative
in den Dunkelkammern von gestern
und gestern. Wer möchte das wissen.
Wer weiß es.
Dagmar Nick (* 1926)
Tinnitus
Irrtum, zu glauben,
es wäre genug mit dem Gezappel
der Beine, der eisenspitzenbewehrten
Sperre vor dem Auftritt der Nacht, die
den Schlaf im Schleppnetz wie Lösch-
schaum herbeiziehen möchte;
es wäre genug mit den Steigerungen
weiter und höher und schneller im Takt
der Unendlichkeit; es gäbe nun
keinen mehr, der dich das Fürchten
noch lehren könnte: Er steht dir zur Seite,
er überwältigt dich auf Befehl einer Macht,
die du nicht orten kannst, er klemmt
sich in deinen Gehörgang, ein Metronom,
das deinen Herzschlag verspottet.
Es gibt kein Entkommen.
Finde dich ab.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Unter Brüdern
Hypnos, mein störrischer
Freund, der mich zappeln läßt,
wenn ich ihn brauche, der
mich rätseln läßt, wo er
die Träume versteckt, die Quelle,
der sie entstammen im Refugium
hinter der Stirn, wie er sie lenkt,
diese zirzensischen Späße, wie er
mich ablenkt, um seinen Bruder
nicht zu erkennen, der doch
neben mir steht in erzenen Schuhen
seit meiner Geburtsnacht, ein
Fremdkörper neben dem meinen,
so nah und so unbegreiflich.
*
Dagmar Nick (* 1926)
Achtzig vorüber
Die letzte Seite: ein Zeitspalt,
zu schmal, um ein Leben darin
zu entwerfen, als stünden noch
Sommer bevor, ganz ohne Verlust,
Begegnungen vorgezeichneter Wege,
so etwas wie Zukunft. Nein,
mit dem Pläneerfinden ist es
vorbei auf solchem Terrain.
Die Grenze zu nah. Der Raum
um die Füße verengt. Da schwappt
eine Schwärze empor, die schon
die Knöchel umfängt wie ein
stetig steigendes Moor, und
wir bemerken die Täuschung
nicht. Wie wir sinken.
*
veröffentlicht unter D.N. „Schattengespräche“ im Rimbaud Verlag 2008, S. 51
Der Autorin und dem Verlag herzlich gedankt für die Abdruckerlaubnis, 22.02.2010
Dagmar Nick (* 1926)
Flucht
Weiter. Weiter. Drüben schreit ein Kind
Laß es liegen, es ist halb zerrissen.
Häuser schwanken müde wie Kulissen
durch den Wind.
Irgendjemand legt mir seine Hand
in die meine, zieht mich fort und zittert.
Sein Gesicht ist wie Papier zerknittert,
unbekannt.
Ob du auch so um dein Leben bangst?
Alles andre ist schon fortgegeben.
Ach, ich habe nichts mehr, kaum ein Leben,
nur noch Angst.
(Erstveröffentlichung durch Erich Kästner, 1945)
Dagmar Nick (* 1926)
Krakau, deine Gräber
Der Anspruch der Ewigkeit
noch im Verlust. Wir schreiten
über die Gräber hinweg, den
Griff des Efeus am Knöchel, lagern
uns zwischen die Steine, entziffern
die Namen und rufen sie auf,
wir hören die Antwort
der Vögel, eine andere Sprache,
keine Trauer in dieser Welt
verschütteten Schicksals, wir tasten
über die zeitverschleierten Zeichen
und ahnen, daß nichts
so lebendig ist wie die Toten.
*
veröffentlicht unter D.N. „Schattengespräche“ im Rimbaud Verlag 2008, S.38
Der Autorin und dem Verlag herzlich gedankt für die Abdruckerlaubnis, 22.02.2010
1.) Werkausgabe des Rimbaud Verlags:
http://www.rimbaud.de/nick.html
2.) Biographisches:
http://www.ostdeutsche-biographie.de/nickda06.htm
3.) Ein Interview:
http://www.poetenladen.de/pia-leuschner-dagmar-nick.htm
4.) Vertreibungsschicksal
http://www.mitteleuropa.de/literatur01.htm
*
Ich danke der Autorin herzlich für die zugesandten Gedichte und die großzügige Abdruckerlaubnis: München 22. 02. 2010 - Erich Adler @
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