“... Lesen schadet den Augen! ”

                                          

     Prosatextanalyse - Theodor Fontane “Irrungen und Wirrungen” Kp. 4 (Ausschnitt)

 

 1. Leisten Sie am vorliegenden Prosa-Text eine Analyse nach den bekannten Kriterien.

 2.  Überdenken Sie die Auswirkungen dieser Textpassage auf den weiteren Handlungsverlauf;                         beurteilen Sie, wie sich Lene zur GesprĂ€chsfĂŒhrung der adligen Gesellschaftsschicht Bothos Ă€ußert              und inwieweit Fontane hiermit eine Gesellschaftskritik vollzieht.

                                             *

»Ich auch nicht", lachte Lene. »Frau Dörr hat ganz recht; sie hat ĂŒberhaupt immer recht. Aber das Ist wahr, wenn man solchen Vers liest, da hat man immer gleich was zum Anfangen, ich meine zum AnfĂ€ngen mit der Unterhaltung, denn anfangen Ist immer das Schwerste, gerade wie beim Briefschreiben; und ich kann mir eigentlich keine Vorstellung machen, wie man mit so viel fremden Damen (und Ihr kennt euch doch nicht alle) so gleich mir nichts, dir nichts ein  GesprĂ€ch anfangen kann."

    „Ach, meine liebe Lene", sagte Botho, „das ist nicht so schwer, wie du denkst. Es ist sogar ganz leicht. Und wenn du willst, will ich dir gleich eine Tischunterhaltung vormachen."

    Frau Dörr und Frau Nimptsch drĂŒckten Ihre Freude darĂŒber aus und auch
Lene nickte zustimmend.

    „Nun", fĂŒhr Baron Botho fort. «denke dir also du wĂ€rst eine kleine GrĂ€fin, Und
eben hab ich dich zu Tische gefĂŒhrt und Platz genommen und nun sind wir beim ersten Löffel Suppe.“

    „Gut. Gut. Aber nun?“

    â€žUnd nun sag ich: Irr ich nicht, meine gnĂ€digste Komtesse, so sah ich Sie gestern in der Flora, Sie und Ihre Frau Mama. Nicht zu verwundern. Das Wetter lockt Ja jetzt tĂ€glich heraus und man könnte schon von Reisewetter sprechen. Haben Sie PlĂ€ne. SommerplĂ€ne, meine gnĂ€digste GrĂ€fin? Und nun antwortest du, daß leider noch nichts feststĂŒnde, weil der Papa durchaus nach dem Bayrischen wolle, daß aber die SĂ€chsische Schweiz mit dem Königstein und der Bastei dein Herzenswunsch wĂ€re."

    „Das ist es auch wirklich", lachte Lene.

 Â»Nun sieh. das trifft sich gut. Und so fahr ich denn fort: Ja, gnĂ€digste Komtesse, da begegnen sich unsere Geschmacksrichtungen. Ich ziehe die SĂ€chsische Schweiz ebenfalte jedem anderen Teile der Welt vor, namentlich auch der eigentlichen Schweiz. Man kann nicht immer große Natur schwelgen, nicht immer klettern und außer Atem sein. Aber SĂ€chsische Schweiz! Himmlisch, ideal. Da hab ich Dresden; in einer Viertel- oder halben Stunde bin ich da, da seh ich Bilder, Theater, Großen Garten, Zwinger, GrĂŒnes Gewölbe. VersĂ€umen Sie nicht, sich die Kanne mit den Törichten Jungfrauen zeigen zu lassen, und vor altem den Kirschkern, auf dem das ganze Vaterunser steht. Alles bloß durch die Lupe zu sehen."

    »Und so sprecht ihr!"

"Ganz so, mein Schatz. Und wenn ich mit meiner Nachbarin zur Linken, also mit Komtesse Lene fertig bin, so wend ich mich zu meiner Nachbarin zur Rech ten, also zu Frau Baronin Dörr..."

Die Dörr schlug vor EntzĂŒcken mit der Hand aufs Knie, daß es einen lauten  Puff gab...

    „Zu Frau Baronin Dörr also. Und spreche nun worĂŒber? Nun, sagen wir ĂŒber
Morcheln."

    „Aber mein Gott, Morcheln. Aber Morcheln, Herr Baron, das geht doch nicht."

    »O warum nicht, warum soll es nicht gehen, liebe Frau Dörr? Das ist ein
sehr ernstes und lehrreiches GesprĂ€ch und hat fĂŒr manche mehr Bedeutung als Sie glauben. Ich besuchte mal einen Freund in Polen, Regiments-
und Kriegskameraden, der ein großes Schloß bewohnte, rot und mit zwei
dicken TĂŒrmen, und so furchtbar alt, wie's eigentlich gar nicht mehr vorkommt. Und das letzte Zimmer war sein Wohnzimmer; denn er war unverheiratet, well er ein Weiberfeind war..."

     „Ist es möglich?"

    »Und ĂŒberall waren morsche, durchgetretene Dielen und Immer, wo ein paar Dielen fehlten, da war ein Morchelbeet und an all den Morchelbeeten ging ich vorbei, bis ich zuletzt in sein Zimmer kam.

    »Ist es möglich?" wiederholte die Dörr und setzte hinzu: »Morcheln.

Aber man kann doch nicht immer von Morcheln sprechen."

    „Nein, nicht immer. Aber oft oder wenigstens manchmal und eigentlich ist es ganz gleich, wovon man spricht. Wenn es nicht Morcheln sind, sind es Champignons und wenn es nicht das rote polnische Schloß ist, dann ist es SchlĂ¶ĂŸchen Tegel oder Saatwinkel, oder Valentinswerder. Oder Italien oder Paris, oder die Stadtbahn, oder ob die Panke zugeschĂŒttet werden soll. Es ist altes ganz gleich. Ober jedes kann man ja was sagen und einem gefĂ€llt oder nicht. Und ‚ja' Ist geradesoviel wie .nein’.“

    »Aber“, sagte Lene, »wenn es alles so redensartlich ist. da wundert es mich. daß Ihr solche Gesellschaften mitmacht."

                                                                                                                                         (663 Wörter)

       Hilfsmittel: 

         Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen (Roman; ersch. 1888)

 

PDF FontÀne

Tipp (nicht nur) fĂŒr SchĂŒler zur allgemeinen Vorbereitung:

- Eberhard Hermes, Training - Analyse und Interpretation erzĂ€hlende Prosa, Klett Verlag, 1995  - Reinhard Marquaß,  Duden. Abiturhilfen. ErzĂ€hlende Prosatexte analysieren, 1997

 

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