Georg Heym (1887 - 1912)
Der blaue Schnee liegt auf dem ebenen Land,
das Winter dehnt. Und die Wegweiser zeigen
einander mit der ausgestreckten Hand
der Horizonte violettes Schweigen.
Hier treffen sich auf ihrem Weg ins Leere
vier StraĂen an. Die niederen BĂ€ume stehen
wie Bettler kahl. Das Rot der Vogelbeere
glĂ€nzt wie ihr Auge trĂŒbe. Die Chausseen
verweilen kurz und sprechen aus den Ăsten.
Dann ziehen sie weiter in die Einsamkeit
gen Nord und SĂŒden und nach Ost und Westen,
wo bleicht der niedere Tag der Winterzeit.
Ein hoher Korb mit rissigem Geflecht
blieb von der Ernte noch im Ackerfeld.
WeiĂbĂ€rtig, ein Soldat, der nach Gefecht
und heiĂem Tag der Toten Wache hĂ€lt.
Der Schnee wird bleicher, und der Tag vergeht.
Der Sonne Atem dampft am Firmament,
davon das Eis, das in den Lachen steht
hinab die StraĂe rot wie Feuer brennt.
Anm.: Lache = WasserpfĂŒtze; Chaussee = (frz.) LandstraĂe
Das Wintergedicht âDer blaue Schneeâ von Georg Heym (1887 - 1912) stellt eine Winterlandschaft mit negativer Stimmung dar. Meine Interpretationshypothese ist, dass der Autor versucht, die Endzeitstimmung und die Endlosigkeit auf der Erde am Beispiel einer Winterlandschaft darzustellen.
Das Gedicht besteht aus fĂŒnf Strophen mit jeweils vier Versen, wobei immer Kreuzreime vorliegen. Im Verlauf des Gedichts greift der Autor mehrmals auf das Stilmittel der Personifikation zurĂŒck (vgl. Strophe 2, Vers 2-3: âDie niederen BĂ€ume stehen wie Bettler kahl.â) In Strophe eins âbeschreibtâ das lyrische Ich eine Schneelandschaft im âebenen Landâ, die durch den Winter ins Endlose gedehnt wird. Ein Wegweiser wird durch seine ausgestreckten HĂ€nde personifiziert, die zum stillen Horizont zeigen. Die Landschaft scheint endlos zu sein. Vier ins Leere fĂŒhrende StraĂen treffen sich hier, wie man in Strophe zwei erfĂ€hrt. Vogelbeeren sĂ€umen die StraĂen. Die VogelbeerbĂ€ume werden durch Bettler personifiziert, die roten Beeren sind wie Augen der Bettler. Dadurch bekommt der Leser den Eindruck, dass die BĂ€ume (Bettler) die StraĂe beobachten. Die immer fortlaufenden Chausseen sprechen aus den Ăsten der BĂ€ume, wie man in der dritten Strophe erfĂ€hrt. Sie scheinen genauso zu klagen wie die Bettler (BĂ€ume). Dann ziehen sie weiter in die Einsamkeit und Leere in alle vier Himmelsrichtungen. Durch die vierte Strophe wird vermittelt, dass ein hoher Korb von der letzten Ernte im Ackerfeld steht. Er wird als weiĂbĂ€rtiger Soldat personifiziert, der Totenwache hĂ€lt. Hier stellt das WeiĂbĂ€rtige ein hohes Alter und VergĂ€nglichkeit dar. Die Worte âGefechtâ und âTotenwacheâ verstĂ€rken die Endzeitstimmung noch, die in den vorigen Strophen aufgebaut wurde. Die Erde scheint immer mehr zur Hölle zu werden. In der fĂŒnften und letzten Strophe endet schlieĂlich der Tag. Er beginnt genau wie der Schnee zu bleichen. Die Hitze der Sonne, durch âder Sonne Atemâ verbildlicht, lĂ€sst auch das letzte Eis schmelzen und drĂŒckt VergĂ€nglichkeit aus. Das Eis, nur noch in Wasserlachen vorhanden, âflieĂt â die StraĂen hinab. Durch die Sonnenstrahlen scheint das Wasser rot zu sein. Dadurch entsteht der Eindruck eines brennenden Flusses, der das gesamte Szenario wie die Hölle auf Erden wirken lĂ€sst.
So sehe ich meine Anfangshypothese als richtig an, da der Autor von Anfang an ein stetig bedrĂŒckender werdendes Szenario erschafft, das am Ende mit einem Fluss aus Feuer und der Hölle auf Erden schlieĂt. Dadurch versucht er, die Probleme der Welt an einer Winterlandschaft darzustellen, indem er BĂ€ume als Bettler oder einen Korb als Totenwache haltenden Soldaten personifiziert.
Mir gefÀllt das Gedicht gut, da der Autor anhand einer Winterlandschaft versucht, Probleme darzustellen und den Weg zu zeigen, auf dem sich die Welt befindet: Er verweist auf Armut (Bettler), aber auch auf Kriege (ein Soldat hÀlt Totenwache).
Sebastian Wanjura,© Kl. 10 GBE 2002 - âMini-Abiâ (dreistĂŒndig)
Lehrerkommentar:
Eine beeindruckend gelungene Interpretation auf dem Hintergrund exakter, auch auf dem Arbeitsblatt erkennbarer Textarbeit (Allerdings lĂ€sst du das Metrum unerwĂ€hnt; schlicht vergessen?) Ăberzeugend: Das intuitive Erfassen der Epoche. Sehr gut!
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