“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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          Gedichtinterpretation am Gymnasium Bad Essen - Mittelstufe

 

          Ulla Hahn (* 1946)  Angeschaut  (1981)

 

Das 1981 entstandene Gedicht „Angeschaut“ von Ulla Hahn (geb. 1946) beschreibt eine Beziehung zwischen zwei Personen, die sich näher kommen und schließlich, am Ende des Gedichtes, wieder alleine da stehen.

In der ersten Strophe schauen sie einander an, in der zweiten berühren sie sich, in der dritten küssen sie sich. Die vierte Strophe beschreibt, dass das lyrische Ich alleine ist.

Ulla Hahn schreibt dieses Gedicht mit großer Wahrscheinlichkeit aus der Sichtweise einer Frau, möglicherweise aus ihrer Position.

 

Nach meinem ersten Textverständnis beabsichtigt Ulla Hahn mit diesem Gedicht, die Beziehung zweier Menschen mit allem darzustellen, was sie dadurch gewinnen, und verstärkt dieses durch eine Antithese, in der die Beziehung beendet ist, das lyrische Ich ist vergessen. Es geht um eine Beziehung, in der die Rollenverteilung nicht ausgeglichen ist; der eine zieht mehr Nutzen als der andere aus der Beziehung. Sie will meiner Meinung nach auch beschreiben, wie eine Gegenseitigkeit in einer Beziehung ist oder sein sollte und dass das Handeln und jede Geste bei dem Gegenüber oder Partner Gefühle hervorruft.

Das Thema und die Problematik lassen darauf schließen, dass es sich bei dem Gedicht um ein Liebesgedicht handelt.

 

Das Gedicht ist, wie schon erwähnt, in vier Strophen gegliedert, die jeweils aus vier drei und zweimal fünf Versen bestehen. Im gesamten Text gibt es kein vorherrschendes Metrum und keinen Reim. Die einzelnen Verse haben alle eine unterschiedliche Silbenanzahl, wobei auffällt, dass zu Beginn des Gedichtes die Verse etwa 5-10 Silben haben, in der letzten Strophe aber nur 3-4, wobei auch einmal ein sechs oder siebensilbiger Vers vorkommt. Das gesamte Gedicht ist im Hakenstil gehalten.

Das erste prägnante Merkmal ist der Beginn des jeweils ersten Verses aller Strophen. Auf „Du hast mich“ folgt immer ein Verb („angeschaut“ Strophe 1; „angefasst“ Strophe 2; „geküsst“ Strophe 3; „vergessen“ Strophe 4) und das temporale Adverb „jetzt“. Dies müsste aber im zweiten Vers stehen, wodurch die Sätze künstlich getrennt werden.

Es fällt auf, dass dieser starke Einschnitt immer in dem zweiten Vers ein Personalpronomen der ersten Person nach sich zieht. In dem gesamten Gedicht wird eine Beziehung von der ersten Begegnung über erste Berührung und Kuss bis schließlich zum Ende der Beziehung dargestellt. Es wird vor allem großer Wert auf die Beschreibung der Emotionen und Wahrnehmungen des lyrischen Ichs gelegt. Diese Wahrnehmungen sind zuerst noch sehr real („Du hast mich angeschaut jetzt / hab ich plötzlich zwei Augen mindestens / einen Mund und die schönste Nase / mitten im Gesicht.“ Strophe 1), werden aber in Strophe 2 und 3 immer irrealer („wächst mir Engelsfell wo / du mich beschwertest.“ Strophe 2, 2-3), was vor allem aber durch Metaphern verstärkt wird (es wächst „Engelsfell“, 2; es fliegen die „gebratenen Tauben Rebhühner und Kapaunen nur so ausm Maul * “, 3).

Ein weiteres Merkmal ist die Antithese zwischen den Strophen 1-3 („glücklich“ und verliebt) und Strophe 4 (in der die Beziehung beendet ist und das lyrische Ich vergessen wurde). Diese Antithese wird bereits in der zweiten Strophe und vor allem aber auch in der dritten Strophe vorbereitet, wo schon eine Art Vorwurf („und du tatest dich gütlich“, 5) erwähnt wird und der Kuss negativer dargestellt wird, indem die Metapher auf etwas Unangenehmes, nicht sonderlich Schönes hindeutet, was keineswegs auf Liebe oder Gefühle verweist. Auch die Metapher in Strophe zwei („Engelsfell“), die eine Art Oxymeron ist, ist zweideutig. Einerseits wird es mit etwas Himmlischem und Einzigartigem verbunden, andererseits aber auch mit völlig negativen Aspekten assoziiert, da Fell auf etwas Tierisches hindeutet.

Ein weiterer Aspekt ist, dass das Tempus innerhalb des Textes wechselt. Ist das lyrische Ich das Subjekt, so steht das Verb im Präsens. Ist aber der Partner oder die andere Person Subjekt (jeweils der erste Vers und in Strophe zwei und drei der letzte Vers), so wechselt das Tempus in die Vergangenheit und das Verb steht im Präteritum bzw. Perfekt. Dieses steht sich klar gegenüber und kennzeichnet, dass die Gemeinsamkeit in der Beziehung vorbei ist. Das lyrische Ich kann nur noch von den eigenen Gefühlen und Eindrücken berichten. Dieser subjektbezogene Wechsel des Tempus innerhalb der Strophen weist zusätzlich auf eine passive Haltung des lyrischen Ichs in der Beziehung hin. Achtet man auf die Art der Verben, so erkennt man, dass die Handlung immer von dem Partner ausgeführt wird, mit Ausnahme der ersten („jetzt / hab ich....“ Strophe 1, 1-2) und der letzten Strophe(„jetzt / steh ich da...“, Strophe 4, 1-2). In diesen Fällen ist die Handlung des lyrischen Ichs noch sehr aktiv, innerhalb des Gedichtes, also auch während der Beziehung, sind die Verben hingegen passivisch und drücken aus, was mit dem lyrischen Ich geschieht. Diese Änderung innerhalb des Gedichtes drückt aus, dass das lyrische Ich die natürliche Eigenmächtigkeit und die Möglichkeit selbst zu bestimmen in der Beziehung verloren hat und erst am Ende, wo die Beziehung beendet ist, wieder fähig ist, selbst zu handeln und als Einzelperson betrachtet wird.

Nimmt man an, der Text spiegelt eine Beziehung wider, so bemerkt man ein deutliches Wechselspiel der Subjekte, was schon durch die zuvor erkannten Merkmale unterstützt wurde. Auf jede Aktion, eine Geste die Liebe zeigt, folgt hier eine passive Reaktion der lyrischen Ichs, die zuerst eindeutig ist, nämlich es entwickelt Gefühle und erwidert diese gegenüber dem Partner. In Strophe zwei und drei verlieren diese Gefühle an Intensität auf beiden Seiten und in Strophe vier erinnert die Situation eher an Verachtung, aber vor allem auch Zweifel. Dieser Eindruck wird durch den verwendeten Hakenstil unterstrichen, der in Strophe vier teilweise in den Zeilenstil übergeht und so erst das Gemeinsame der Beziehung und dann die immer größer werdende Distanz zwischen den beiden Personen widerspiegelt.

 

Abschließend lässt sich sagen, dass sich die Annahmen in der Interpretationshypothese bestätigt haben. Ulla Hahn drückt mit diesem Text sehr präzise aus, was zwei Menschen in einer Beziehung empfinden können. Sie stellt dar, dass jede Aktion eine Reaktion des Partners zur Folge hat. Sie beschreibt vor allem die Aspekte, die zu einer Beziehung gehören, was sie einem gibt, aber auch, was eine Beziehung von einem fordert. Vor allem aber hat sie beabsichtigt zu erläutern, wie sehr die Persönlichkeit in einer Beziehung eingeschränkt werden kann. In diesem Fall handelt das lyrische Ich nicht mehr eigenmächtig, sondern ist durch die Beziehung so eingeschränkt, dass es nur noch passiv ist und negative Gefühlsempfindungen hat.

                                                                Lena Mönter ©  GBE Kl. 10 / 2007  (H. Abram)

 

Ulla Hahn: Angeschaut (1981)

 abgedruckt in:    Verstehen und Gestalten   C 10 .  R. Oldenbourg Verlag München 1994   S. 66

Dort findet sich auch die nützliche Interpretationsanleitung bzw. der Aufbau einer schriftlichen Gedichtinterpretation („grüner Kasten“). Die Strukturierung der Gedichtinterpretation durch die sog. Interpretationshypothese ist eine schülergemäße Aufsatzhilfe, die sich in der Praxis am GBE sehr bewährt hat.

 

         *    Lyrikschadchens  Ergänzung zur vorliegenden schönen Deutung der Schülerin:

 Bei  google  unter  Bilder  mal  „Pieter Bruegel dA“ + „Schlaraffenland“  eingeben; dann sieht man konkret, wie Lyriker zu ihren „Bildern“ und Ideen kommen und wie ihnen die gebratenen Tauben ins Maul fliegen:  Unterm Tisch liegen, faulenzen und sich abfüllen lassen?!. Auch der Märchentext vom „Schlaraffenland“ zeigt, woran der weibliche Sprecher im Gedicht der Ulla Hahn zu denken scheint und was Kummer macht: sich angeboten zu haben, um die Genusssucht des Geliebten zufrieden zu stellen, wenn es heißt: „Komm her mein Täubchen!“ Dann aber „nach Gebrauch“, wenn der Appetit nachgelassen hat,  mit dem Gefühl der Wertlosigkeit unerfüllt als „Plunder“ (IV, 5) zurückzubleiben, während der Geliebte sich „gütlich tat“ (III, 4)   - eine Liebesbeziehung  auf das (sexuell) Körperliche reduziert mit dem ernüchternden Ergebnis: „Du hast mich vergessen jetzt/ steh ich da“. (IV, 1) Dies ist dann zugleich die letzte Station der in den Strophen belegten Annäherung des Du an das lyrische Ich:

                            Du hast mich ... , du hast mich...  , du hast mich ... , du hast mich …

                       (Du hasst mich?) Bleibt nur Hoffnung auf ein nicht zu fernes:  Du kannst mich mal !

                    

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