“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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          Max Dauthendey (1867 - 1918)

          Die Amseln haben Sonne getrunken

           

           Die Amseln haben Sonne getrunken,

          Aus allen Gärten strahlen die Lieder,

          In allen Herzen nisten die Amseln,

          Und alle Herzen werden zu Gärten

          Und blühen wieder.

           

          Nun wachsen der Erde die großen Flügel

          Und allen Träumen neues Gefieder,

          Alle Menschen werden wie Vögel

          Und bauen Nester im Blauen.

           

          Nun sprechen die Bäume in grünem Gedränge

          Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne,

          In allen Seelen badet die Sonne,

          Alle Wasser stehen in Flammen,

          Frühling bringt Wasser und Feuer

          Liebend zusammen.

 

Das Gedicht “Die Amseln haben Sonne getrunken” von Max Dauthendey, der dies zwischen 1867 und 1918 verfasst hat, handelt davon, wie sich die Welt und die Gemüter der Menschen beim Beginn des Frühlings wandeln.

Max Dauthendey nannte sein Gedicht “Die Amseln habe Sonne getrunken” und verweist den Rezipienten schon auf einen Vorgang in der Natur.

Das Naturgedicht hat drei Strophen mit je fünf , vier  und sechs  Versen. Das Metrum ist im Jambus* verfasst. Dies wirkt wie ein gleichmäßig schneller Flügelschlag eines Vogels, der nach einem langen Winter über das Land fliegt.  Gereimte Verse finden sich nur teilweise (Strophe I, Vers 2 und 5): “Aus allen Gärten strahlen die Lieder “; “und blühen wieder” (Strophe III, Vers 4   )     “Alle Wasser stehen in Flammen,/ ...liebend zusammen” .                                                                                          In der ersten Strophe beschreibt* der Autor das Erwachen des Frühlings durch das Gezwitscher der Vögel, deren Lieder man jetzt überall hören kann. Die Herzen der Menschen blühen wie die Gärten, die sie angelegt haben (vgl. Strophe I, Vers 2, 4 und 5): “Aus  allen Gärten strahlen die Lieder” und  “Und alle Herzen werden zu Gärten/ Und blühen wieder”.

Die zweite Strophe zeigt, wie sich auch die Gemüter der Menschen verändern. Sie beginnen neu zu träumen und in einer gewissen Art ein neues Leben: “ Und allen Träumen neues Gefieder”,  “Alle Menschen werden wie Vögel/ Und bauen Nester im Blauen” (Strophe II, Vers 2-4).

In der dritten und in der letzten Strophe wird die Veränderung innerhalb der Natur beschrieben*: Die  Bäume rauschen, die Sonne strahlt und wärmt die Gemüter aller Lebewesen sowie das Wasser der Meere und Seen (vgl. Strophe III, Vers 2-4        )” Und rauschen Gesänge zur hohen Sonne/  In allen Seelen badet die Sonne”/ “Alle Wasser stehen in Flammen”.  Auffällig ist, dass in jeder Strophe das Motiv der Bewegung vorhanden ist; ein Beispiel dafür wäre die Amsel, ein Lebewesen, das zumeist in Bewegung ist, “nistet /Strophe I, Vers 3, oder andere Nomen und Verben, die andeutenden, dass etwas in Bewegung ist (blühen, wachsen, Flügel, bauen, sprechen, rauschen, Baden, Flammen, Gedränge). Der Winter ist zu Ende und somit erwacht die Natur zu neuem Leben. Alles ist in Aufbruch, ordnet sich neu, auch  die Gefühlswelt der Lebewesen, die der Menschen wie die der Tiere. Eine weitere  Auffälligkeit ist, dass Dauthendey in der ersten und letzten Strophe einige Nomen innerhalb der Strophe wiederholt: In der ersten Strophe Amsel und Herzen und in der dritten Strophe Sonne und Wasser. Meiner Ansicht nach hat Dauthendey die Absicht, die Bedeutung dieser “Frühlingsboten” noch stärker hervorzuheben. Besonders das Motiv der Sonne, welche ein erstes wärmendes Zeichen dafür ist, dass der Winter vorbei ist.

In der ersten Strophe leitet Dauthedey den Frühling mit der Sonne ein. Die Vögel verkünden den Frühlingsbeginn mit strahlenden Liedern” (Vgl. Strophe I, Vers 2). Sie wollen einen neuen Lebensabschnitt beginnen und suchen einen  Partner, um dies ermögliche zu können. Selbst die Herzen der Menschen werden wieder weit und offen für alles; der neue Lebensmut, den der Winter unterdrückt hat, blüht nun wie die ersten Blumen in den Gärten /St I, V 3-5). “In allen Herzen nisten die Amseln”, “Und alle Herzen werden zu Gärten/ Und blühen wieder”. Dieser Vorgang wird in der zweiten Strophe dem Leser noch einmal verdeutlicht: Der Erde und den Träumen wachsen Flügel (vgl. St II, V 1-2)  “Nun wachsen der Erde die großen Flügel/ Und allen Träumen neues Gefieder.” 

 Mit dem Frühlingsbeginn wachsen neuer  Mut und neue Lebenslust und auch die Sehnsucht nach einem Partner. Alles scheint möglich zu sein. Die schweren Zeiten des Winters sind vorbei, alles ist neu, offen und leicht. Es gibt keine Ausrede mehr für Schwerfälligkeit, ob man will oder nicht: Bewegungen und Veränderungen sind überall. Genau wie die Vögel erreichen auch die Menschen die Frühlingsgefühle. Sie werden wie die Vögel (vgl. St II, Vers 3) und suchen einen Partner fürs Leben, um “Nester” in einer schönen, farbenfrohen Welt zu bauen.

In der letzten Strophe wird noch einmal die Natur in den Vordergrund gerückt. Die Bäume, die vorher kahl, kalt und leer waren, haben nun eine dichte Blätterfülle, so dicht, dass es schon wie ein Gedränge wirkt. Sie wiegen sich im Wind und rascheln dabei so, als wäre es eine Art Gesang. Sie wachsen  und strecken ihre Äste zur wärmenden Sonne (St III, Ver 1-2)       Hier kommt das Motiv der “Sonne” deutlich zum Vorschein: Sie wärmt die Herzen und Gemüter, die vom Winter kalt geworden sind. Sie wärmt das Wasser und schafft es somit, Wasser und Feuer in Einklang zu bringen (vgl. St III, V 5 -  7). Doch  nicht nur das Feuer und das Wasser, welche so gegensätzlich sind, werden  liebend zusammengebracht, sondern auch die Menschen und Tiere. Die Natur ist so unbegreiflich, dass sie selbst mit ihren Frühlingsgefühlen zwei ganz unterschiedliche Menschen  oder Tiere, hier die Vögel, liebend zusammenbringen kann.

Hiermit kann ich meine Interpretationshypothese, dass sich die Welt und die Gemüter der Menschen beim Beginn des Frühlings wandeln, bestätigen und sogar erweitern. Max Dauthendey zeigt, dass die Vorgänge der Natur so wunderbar und unbegreiflich sind, dass sie es schafft, ein vermeintlich totes Leben neu zu ordnen und selbst gegensätzliche Dinge in Einklang zu bringen. Der Frühling ist wie eine Art “Wunder” der Natur.

Die Sprache Dauthendeys ist in diesem Gedicht einfach und sehr bildlich .Sie  erleichtert es dem Rezipienten, sich in die Situation hineinzuversetzen und sich ein genaues Bild zu machen. Ich denke, das Max Dauthendeys Gedicht sehr gelungen ist. Er hat ein sehr treffendes Bild von der Natur. Gefühle zu beschreiben* und in Worte zu fassen ist nicht einfach. Das aber ist ihm hervorragend gelungen; ich kann mich gut in sein Gedicht hineinversetzen und seine Gefühle nachempfinden. Frühlingsgefühle sind was sehr Schönes und die unbeschreibliche Sehnsucht nach einem neuen Lebensabschnitt, einem Partner, nach dem Sommer und noch viel mehr kommen in diesem Gedicht zur Geltung. Durch die Bildhaftigkeit wird die Phantasie des Lesers angeregt und das Motiv der “Sonne” wärmt innerlich. Es wirkt mitreißend. Das Gedicht nimmt den Leser mit auf eine Reise.

Ich habe “Die Amseln haben Sonne getrunken” gewählt, weil ich es selber kaum erwarten kann kann, dass der Frühling beginnt. Frühling ist etwas Wunderbares. Ich finde, dies hat der Dichter  mit seinem letzten Satz “Frühling bringt Wasser und Feuer liebend zusammen “ (St III, V 5-6) noch einmal deutlich hervorgehoben.

 

Lehrerkommentar  (*):

1. Nicht alle Verse halten den Jambus so gleichmäßig durch, wie du meinst:

    u / u / u / u u/ u              (Vers 1)

    u / u / u/ u u / u             (Vers 2)

    u / u u / u u /  u/  u        (Vers 6)

    u / u u / u u / u u/ u       (Vers 10)

Steiger und Doppelsteiger (Anapäst) treten gemischt auf. Dein Eindruck einer konstanten Rhythmisierung  ist aber zutreffend.

Lyrik “beschreibt” nicht!

Es geht neben dem gefühlten auch um den optischen Eindruck, den das Sonnenlicht auf dem Wasser hinterlässt.

Die dritte Strophe hat nur sechs Verse.

Eine rundum überzeugende Gesamtleistung in Hinblick auf die Textarbeit und die Deutung mit guter Schlussbetrachtung.

                                                                                 Carolin Bruns GBE Kl. 10 / 2006 (dreistündig)

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