“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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                       Interpretation eines Gedichts ohne Kenntnis des Autors

 

            (Heinrich Heine)

               

          Aus alten Märchen winkt es

          Aus alten Märchen winkt es

          Hervor mit weißer Hand,

          Da singt es und da klingt es

          Von einem Zauberland:

           

          Wo bunte Blumen schmachten

          Im goldnen Abendlicht’,

          Und lieblich duftend glühen

          Mit bräutlichem Gesicht;

           

          Und grüne Bäume singen

          Uralte Melodein

          Die Lüfte heimlich klingen,

          Und Vögel schmettern drein;

           

          Und Nebelbilder steigen

          Wohl aus der Erd hervor,

          Und tanzen luft’gen Reigen,

          Im wunderlichen Chor;

           

          Und blaue Funken brennen

          An jedem Blatt und Reis,

          Und rote Lichter rennen

          Im irren, wirren Kreis;

           

          Und laute Quellen brechen

          Aus wildem Marmorstein,

          Und seltsam in den Bächen

          Strahlt fort der Widerschein.

           

          Ach! Könnt ich dorthin kommen,

          Und dort mein Herz erfreu’ n,

          Und aller Qual entnommen,

          Und frei und selig sein!

           

          Ach! Jenes Land der Wonnen,

          Das seh’  ich oft im Traum,

          Doch kommt die Morgensonne

          Zerfließt’ s wie eitel Schaum.

 

 

Dieses Gedicht besteht aus acht vierzeiligen Strophen, deren Zeilenlänge ungefähr gleich ist. Das Metrum ist gleich bleibend ein dreihebiger Jambus und in jeder Strophe ist der Kreuzreim verwendet worden. Der Autor hat sogar bei den reimenden Wörtern versucht, nur jeweils einen Buchstaben zu ändern, z. B. blühen – glühen (Z 5/7), brennen – rennen (Z 17/ 19). Durch das gleichmäßige Metrum und das Reimschema wird in dem Gedicht eine ruhige Atmosphäre geschaffen. Es entsteht eine Harmonie auch durch die reinen Reime. Diese Harmonie steht eigentlich in krassem Gegensatz zum Inhalt, denn in diesem Märchenland herrschen zwar Frieden und Harmonie, aber das lyrische Ich, das diesen Text ja sagt, empfindet keine innere Harmonie, da es sich ausgeschlossen fühlt. Dieser Unfriede des Sprechers mit  seiner Umgebung wird vielleicht auch durch die einzige Stelle erklärt, wo sich zwei Versenden nicht aufeinander reimen. Die Worte „erfreu’ n“ und „sein“ (Z 26/28) reimen sich nicht 1, wodurch der Leser beim Lesenvorgang  etwas gestört wird. In dieser siebten Strophe „erzählt“ das lyrische Ich von seiner Sehnsucht, in dies Märchenland zu kommen, und  hier wird vielleicht der Unfriede angedeutet.

Das Gedicht enthält viele Zeilensprünge wie „Und grüne Bäume singen/ Uralte Melodein“ (Z 9 und 10) und außerdem hat der Autor an viele Versanfänge ein „Und“ gestellt. Dadurch soll vielleicht verdeutlicht werden, dass in dem Märchenland alles zusammengehört, denn ein „und“ verwendet man in Aufzählungen. In der vorletzten Strophe des Gedichts gibt das lyrische Ich  durch diese Konjunktion zu erkennen, was nach seinem Empfinden alles davon abhängt, um dies Land erreichen zu können.

Der Sprecher weiß, dass er nie Bestandteil dieses Landes werden wird, dass er einfach nicht dazu gehört. 2

Erst nach sechs Strophen steht der erste Punkt in diesem Text.  Er trennt die Beschreibung des lyrischen Ichs von dem Märchenland, von seiner Sehnsucht. Die ganzen sechs Strophen hindurch werden die Verse nur durch Kommas und die Strophen durch Semikolons getrennt. Dieses bedeutet, dass sie eigentlich alle zusammengehören. Der Punkt symbolisiert offensichtlich die Grenze zwischen Märchenwelt und Sprecher.

In dem Gedicht kommen viel Verben vor, die eine sinnliche Wahrnehmung ausdrücken oder mit verschiednen Sinnesorganen wahrgenommen werden körnen, z.B.: „singt – klingt“; dieses kann das Ohr aufnehmen;  „blühen“ können die Augen erfassen und duftende Blumen nimmt die Nase wahr. Es überwiegen aber Verben des Sehens.

 

Das lyrische Ich möchte wohl in dieser Idylle leben, mit blühenden duftenden Blumen, grünen Bäumen, singenden Vögeln und einer rauschende Quelle. Außerdem möchte es in der Lage sein, seine Phantasie spielen zu lassen, denn um im Nebel Bilder zu erkennen, muss man schon Vorstellungskraft haben und Lust und Zeit, um sich den Tanz der Nebelbilder anzusehen.  Dieser Tanz bedeutet vielleicht, dass sich das lyrische Ich auch einmal am Tanz erfreuen möchte.

                         In der siebten Strophe heißt es „Und aller Qual entnommen“  (Z. 27). Für den Sprecher ist das Leben, sein Leben also eine Qual, da er sich nicht frei fühlt und glaubt, es erst  in diesem „Zauberland“ sein zu können: „Und freu und selig sein?“ (Z. 28). Mit dem Wörtchen „Ach“ (Z. 25/ 29) drückt er seinen Schmerz und Kummer aus, dieses Land wohl nie zu erreichen. Dieses Land gibt es in seiner Phantasie nachts im Traum  nimmt das Zauberland dann feste Formen an. Die aufgehende Sonne aber ist der Feind des lyrischen Ichs, denn sie weckt ich aus seinen wunderschönen Träumen und reißt ihn wieder heraus aus diesem Land. Die untergehende Sonnen dagegen, die Zeit der Dämmerung; liebt er, denn dann kann er bald wieder von dem Märchenland träumen; deswegen sieht er es wohl auch nur zur Zeit des Abendlichtes: „In goldnem Abendlicht“ (Z.6)

 

Ich glaube, diese Gedicht ist in der Zeit der Romantik entstanden, denn ein Wahrnehmen mit den unterschiedlichen Sinnen 3 wird in dieser Epoche sehr oft in die Gedichte mit eingebracht. Außerdem spricht auch die Beschreibung 4 der Natur als Idylle und die Sehnsucht des lyrischen Ichs, ein Teil dieses Zauberlandes zu werden, für ein romantisches Gedicht. Zudem waren in dieser Zeit auch Märchen wichtig und dieser Text bezieht sich ja auf Märchen.

 

 

    Lehrerkommentar:

    1   Man spricht von einem „unreinen Reim“.

    2  Die Illusionsbrechung der letzten Strophe wäre noch genauer am Text zu           

         belegen. Sie haben durchaus erkannt, dass der Sprecher „nie Bestandteil     

         dieses Landes werden wird“.      

    3  Fachbegriff  „Sinnesverschmelzung“ (Synästhesie)

    4  Der Begriff „Beschreibung“ ist problematisch.(s. Besprechung)

     

    Sie bieten eine Reihe solider werkimmanenter Aussagen und machen auch gute und wesentliche Beobachtungen.

    An einer Analysestelle verpassen Sie leider die Chance, von einer richtigen Beobachtung ausgehend dieses Gedicht von anderen behandelten Texten  der „Abend–Motivik“ genauer abzugrenzen. Aber mit der Bestimmung der Epoche  „Romantik“ – es handelt sich um die späte Romantik Heines - liegen Sie richtig. Schön!

                                                                                           *****

                                          P.S. / 2006  Lyrikschadchen: Dichter - Schüler

Diese durchaus gelungene Deutung der Schülerin Miriam Kutz © (GBE/  Kl. 11) kommt noch ohne die „Hilfe“ der Interpretationshypothese aus. Dieser methodische  Fortschritt war zum Zeitpunkt der Abfassung 1989 einfach noch nicht eingeübt. (Auch Lehrer lernen schließlich dazu.)

 

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