Interpretation eines Gedichts ohne Kenntnis des Autors
Aus alten Märchen winkt es
Aus alten Märchen winkt es
Hervor mit weißer Hand,
Da singt es und da klingt es
Von einem Zauberland:
Wo bunte Blumen schmachten
Im goldnen Abendlicht’,
Und lieblich duftend glühen
Mit bräutlichem Gesicht;
Und grüne Bäume singen
Uralte Melodein
Die Lüfte heimlich klingen,
Und Vögel schmettern drein;
Und Nebelbilder steigen
Wohl aus der Erd hervor,
Und tanzen luft’gen Reigen,
Im wunderlichen Chor;
Und blaue Funken brennen
An jedem Blatt und Reis,
Und rote Lichter rennen
Im irren, wirren Kreis;
Und laute Quellen brechen
Aus wildem Marmorstein,
Und seltsam in den Bächen
Strahlt fort der Widerschein.
Ach! Könnt ich dorthin kommen,
Und dort mein Herz erfreu’ n,
Und aller Qual entnommen,
Und frei und selig sein!
Ach! Jenes Land der Wonnen,
Das seh’ ich oft im Traum,
Doch kommt die Morgensonne
Zerfließt’ s wie eitel Schaum.
Dieses Gedicht besteht aus acht vierzeiligen Strophen, deren Zeilenlänge ungefähr gleich ist. Das Metrum ist gleich bleibend ein dreihebiger Jambus und in jeder Strophe ist der Kreuzreim verwendet worden. Der Autor hat sogar bei den reimenden Wörtern versucht, nur jeweils einen Buchstaben zu ändern, z. B. blühen – glühen (Z 5/7), brennen – rennen (Z 17/ 19). Durch das gleichmäßige Metrum und das Reimschema wird in dem Gedicht eine ruhige Atmosphäre geschaffen. Es entsteht eine Harmonie auch durch die reinen Reime. Diese Harmonie steht eigentlich in krassem Gegensatz zum Inhalt, denn in diesem Märchenland herrschen zwar Frieden und Harmonie, aber das lyrische Ich, das diesen Text ja sagt, empfindet keine innere Harmonie, da es sich ausgeschlossen fühlt. Dieser Unfriede des Sprechers mit seiner Umgebung wird vielleicht auch durch die einzige Stelle erklärt, wo sich zwei Versenden nicht aufeinander reimen. Die Worte „erfreu’ n“ und „sein“ (Z 26/28) reimen sich nicht 1, wodurch der Leser beim Lesenvorgang etwas gestört wird. In dieser siebten Strophe „erzählt“ das lyrische Ich von seiner Sehnsucht, in dies Märchenland zu kommen, und hier wird vielleicht der Unfriede angedeutet.
Das Gedicht enthält viele Zeilensprünge wie „Und grüne Bäume singen/ Uralte Melodein“ (Z 9 und 10) und außerdem hat der Autor an viele Versanfänge ein „Und“ gestellt. Dadurch soll vielleicht verdeutlicht werden, dass in dem Märchenland alles zusammengehört, denn ein „und“ verwendet man in Aufzählungen. In der vorletzten Strophe des Gedichts gibt das lyrische Ich durch diese Konjunktion zu erkennen, was nach seinem Empfinden alles davon abhängt, um dies Land erreichen zu können.
Der Sprecher weiß, dass er nie Bestandteil dieses Landes werden wird, dass er einfach nicht dazu gehört. 2
Erst nach sechs Strophen steht der erste Punkt in diesem Text. Er trennt die Beschreibung des lyrischen Ichs von dem Märchenland, von seiner Sehnsucht. Die ganzen sechs Strophen hindurch werden die Verse nur durch Kommas und die Strophen durch Semikolons getrennt. Dieses bedeutet, dass sie eigentlich alle zusammengehören. Der Punkt symbolisiert offensichtlich die Grenze zwischen Märchenwelt und Sprecher.
In dem Gedicht kommen viel Verben vor, die eine sinnliche Wahrnehmung ausdrücken oder mit verschiednen Sinnesorganen wahrgenommen werden körnen, z.B.: „singt – klingt“; dieses kann das Ohr aufnehmen; „blühen“ können die Augen erfassen und duftende Blumen nimmt die Nase wahr. Es überwiegen aber Verben des Sehens.
Das lyrische Ich möchte wohl in dieser Idylle leben, mit blühenden duftenden Blumen, grünen Bäumen, singenden Vögeln und einer rauschende Quelle. Außerdem möchte es in der Lage sein, seine Phantasie spielen zu lassen, denn um im Nebel Bilder zu erkennen, muss man schon Vorstellungskraft haben und Lust und Zeit, um sich den Tanz der Nebelbilder anzusehen. Dieser Tanz bedeutet vielleicht, dass sich das lyrische Ich auch einmal am Tanz erfreuen möchte.
In der siebten Strophe heißt es „Und aller Qual entnommen“ (Z. 27). Für den Sprecher ist das Leben, sein Leben also eine Qual, da er sich nicht frei fühlt und glaubt, es erst in diesem „Zauberland“ sein zu können: „Und freu und selig sein?“ (Z. 28). Mit dem Wörtchen „Ach“ (Z. 25/ 29) drückt er seinen Schmerz und Kummer aus, dieses Land wohl nie zu erreichen. Dieses Land gibt es in seiner Phantasie nachts im Traum nimmt das Zauberland dann feste Formen an. Die aufgehende Sonne aber ist der Feind des lyrischen Ichs, denn sie weckt ich aus seinen wunderschönen Träumen und reißt ihn wieder heraus aus diesem Land. Die untergehende Sonnen dagegen, die Zeit der Dämmerung; liebt er, denn dann kann er bald wieder von dem Märchenland träumen; deswegen sieht er es wohl auch nur zur Zeit des Abendlichtes: „In goldnem Abendlicht“ (Z.6)
Ich glaube, diese Gedicht ist in der Zeit der Romantik entstanden, denn ein Wahrnehmen mit den unterschiedlichen Sinnen 3 wird in dieser Epoche sehr oft in die Gedichte mit eingebracht. Außerdem spricht auch die Beschreibung 4 der Natur als Idylle und die Sehnsucht des lyrischen Ichs, ein Teil dieses Zauberlandes zu werden, für ein romantisches Gedicht. Zudem waren in dieser Zeit auch Märchen wichtig und dieser Text bezieht sich ja auf Märchen.
Lehrerkommentar:
1 Man spricht von einem „unreinen Reim“.
2 Die Illusionsbrechung der letzten Strophe wäre noch genauer am Text zu
belegen. Sie haben durchaus erkannt, dass der Sprecher „nie Bestandteil
dieses Landes werden wird“.
3 Fachbegriff „Sinnesverschmelzung“ (Synästhesie)
4 Der Begriff „Beschreibung“ ist problematisch.(s. Besprechung)
Sie bieten eine Reihe solider werkimmanenter Aussagen und machen auch gute und wesentliche Beobachtungen.
An einer Analysestelle verpassen Sie leider die Chance, von einer richtigen Beobachtung ausgehend dieses Gedicht von anderen behandelten Texten der „Abend–Motivik“ genauer abzugrenzen. Aber mit der Bestimmung der Epoche „Romantik“ – es handelt sich um die späte Romantik Heines - liegen Sie richtig. Schön!
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P.S. / 2006 Lyrikschadchen: Dichter - Schüler
Diese durchaus gelungene Deutung der Schülerin Miriam Kutz © (GBE/ Kl. 11) kommt noch ohne die „Hilfe“ der Interpretationshypothese aus. Dieser methodische Fortschritt war zum Zeitpunkt der Abfassung 1989 einfach noch nicht eingeübt. (Auch Lehrer lernen schließlich dazu.)
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