“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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                                    Gedicht  - Interpretation: 1945  (Inge Müller)

aus:  Inge Müller, Wenn ich schon sterben muss. Gedichte. Luchterhand Verlag  Darmstadt u Neuwied 1986, S. 32

(Ich sah die Welt in Trümmern/ Noch hatte ich nichts von der Welt gesehn)

 Das Gedicht „1945“ wurde vermutlich 1954 geschrieben, 1985 wurde es posthum veröffentlicht. Das Gedicht thematisiert gleichsam die äußeren Umstände und inneren Zustände eines Menschen während oder kurz nach einem Krieg. Das lyrische Ich vermittelt die Thematik, indem es im Nachhinein des Erlebens die Erfahrungen ausspricht. Dies wird deutlich, da das Gedicht im Präteritum steht. Dem Leser sollen die Unmenschlichkeit und die zerstörerische Macht des Krieges, seine Wirkung auf das menschliche Leben vor Augen geführt werden, um ihn so aufzurütteln und zum Nachdenken anzuregen.

 

Das Gedicht besteht aus 20 Versen, die kein einheitliches Reimschema besitzen. Das gesamte Gedicht enthält nur drei Reime, zwischen dem dritten und vierten, dem elften und zwölften, sowie dem siebenten und neunten Vers. Eine Einteilung in Strophen wurde nicht vorgenommen, ebenso wenig ist ein durchgängiges Metrum vorhanden. Das Gedicht weist zahlreiche Enjambements auf.

Das Gedicht lässt sich in zwei voneinander getrennte Abschnitte unterteilen. Der erste Abschnitt umfasst die Verse eins bis fünf, der zweite Abschnitt alle restlichen Verse. Der einzige Punkt im Gedicht, außer dem an dessen Schluss, trennt die Abschnitte in der äußeren Form voneinander. Auch inhaltlich lässt sich eine Trennung erkennen: Der erste Teil des Gedichts bildet eine Art Einleitung in die im Folgenden behandelte Thematik. Der Leser gewinnt erste Einblicke in die Vergangenheit des lyrischen Ichs, obwohl dieses sich nicht direkt, z.B. durch Ansprache an den Leser wendet. Vielmehr scheint es, als höre der Leser dem lyrischen Ich beim für- sich- Sprechen zu oder habe sogar die Fähigkeit die Gedanken des lyrischen Ichs zu lesen, als es über seine Vergangenheit nachdenkt. Diesen Eindruck unterstützen die Enjambements, welche dem Gedicht einen Fluss verleihen, mit dem die Abfolge von Gedanken assoziiert werden kann. Der erste Abschnitt enthält sowohl Hinweise auf die Umgebung des Lyrischen Ichs als auch solche auf dessen Person und inneren Zustand. Gleich der erste Vers macht deutlich, dass das Lyrische Ich in einer zerstörten, feindlichen Umwelt leben muss: „Ich sah die Welt in Trümmern“ (Z.1) und „Ich sah den Tod und die Gewalt“ (Z. 3). Eindeutig war das Lyrische Ich zu diesem Zeitpunkt sehr jung worauf die Aussagen hindeuten alt gewesen zu sein, bevor es jung war und nichts von der Welt gesehen zu haben (Z.2/4).  Erstere Aussage macht deutlich, dass dem Lyrischen Ich durch den Krieg seine Kindheit und Jugend geraubt wurde. Der Krieg ließ ihm keine Zeit, richtig jung zu sein, hat es, wenn nicht physisch dann doch psychisch altern lassen. Hinter dieser Feststellung des Lyrischen Ichs ist eine indirekte Charakterisierung des Krieges verborgen: Der Krieg macht Menschen ärmer, trägt zu ihrem Verfall bei und beraubt sie wichtiger Lebensabschnitte, wie hier der Jugend. Den Schluss des ersten Gedichtabschnitts bildet der Vers: „Und wusste, ohne zu verstehn“(Z. 5). Auch hier wird, wenn auch versteckt, eine Beeinflussung des Lyrischen Ichs durch den Krieg deutlich. Der Krieg lässt es Dinge wissen, ohne sie zu verstehen d.h. im Grunde überfordern diese Dinge. Vielleicht kann dieser Vers so gedeutet werden, dass er das Funktionieren des Körpers ohne Nachdenken oder geistige Beteiligung als Folge von Abstumpfung darstellt. Tätigkeiten wie z.B. das später beschriebene Bergen der Toten werden ausgeführt, das Lyrische Ich weiß, dass diese notwendig sind, aber im Grunde kann es das, was es tut nicht fassen und begreifen. Ebenso könnte eine Beeinflussung durch Hetze und Propaganda chiffriert sein. Dem Lyrischen Ich wurde vermeintliches Wissen eingebläut, welches sich ihm nun bei der späteren, reflektierenden Betrachtung als falsch erweist. Das Lyrische Ich erkennt, dass es dieses Wissen damals nur annehmen konnte, weil ihm der Verstand und der Abstand fehlten, dieses Wissen kritisch zu hinterfragen. Nach diesem ersten Überblick über die Situation folgt eine detailliertere Beschreibung der Dinge, mit denen das lyrische Ich konfrontiert war. Es lernt Ertrunkene zu tragen, ohne Tränen zu weinen und zu hassen. Letzteres, bevor die Liebe in ihm einen Ausweg findet (Z. 11). Hier zeigt sich, dass der Krieg die innere, charakterliche Entwicklung des Lyrischen Ichs behindert hat. Durch die äußeren Umstände hat die Liebe als positives, menschliches Gefühl keine Chance sich im Lyrischen Ich zu entwickeln und an ihre Stellen tritt der Hass, welcher der das Lyrische Ich umgebenden, durch den Krieg verursachten Umwelt entspricht. All dem Schrecklichen ist das Lyrische Ich ohne menschlichen Beistand ausgeliefert: „Und war kein Lebendes, das mir beistand“(Z. 12). Hier wird eine Situation dargestellt, der nach jedem Krieg viele Menschen ausgeliefert sind, die ihre Eltern und Verwandten verloren haben und gezwungen sind, für sich alleine zu sorgen. Oft entwickelt sich in Situationen, in denen jeder zuerst an sein eigenes Überleben denkt, ein Egoismus, der Menschen einander nicht mehr helfen lässt. Und trotz allem siegt der Lebenswille. Im Gedicht heißt es: „Eins war, das mich nicht liegen ließ, das Fädchen, an dem aufgereiht wir alle hingen, wir, Zeugen, Samen/ Dünner Faden gedreht aus Menschenhaut, der sang und Hoffnung hieß und Brot und Morgen weiterleben“. Hier besteht eine Verbindung zur griechischen Mythologie, in der jeder Mensch seinen Lebensfaden hat. Wenn ein Mensch stirbt, wird dieser zerschnitten. Die Tatsachen, dass das lyrische Ich von einem „dünnen Faden“ (Z.17) spricht, zeigt, wie nahe es dem Tod war. Ein dünner, rissiger, leicht zu durchschneidender Faden, als Symbol für Schwäche und Todesnähe. Trotzdem bleibt das lyrische Ich am Leben, da es voll von Lebenswillen und Hoffnung auf Brot und ein Morgen ist, die es immer wieder aufstehen und nicht aufgeben lässt. Interessant ist es, dass das Lyrische Ich nicht mehr nur in der ersten Person von sich spricht sondern die dargestellte Lebenshoffnung auf viele Menschen überträgt, indem es „wir“ sagt. Es zeigt sich, dass auch im größten Elend die Hoffnung auf eine bessere Zukunft bei vielen Menschen nicht erlischt. Einen weiteren Beitrag zum Überleben des lyrischen Ichs könnte das Wissen um eine besondere Verantwortung sein, die aus dem Erleben des Krieges erwächst. Das Sprechen von sich und den anderen Menschen als „Zeugen“ und „Samen“ (Z. 16) ist ein Hinweis darauf. Zu Zeugen werden die Menschen durch die unmittelbare Erfahrung des Kriegs, zu Samen dadurch, dass sie etwas von sich weitergeben und aus sich entwickeln. Ein Samen ist wohl das treffendste Bild um etwas Kleines, Unscheinbares zu umschreiben, welches ein verborgenes, reiches Potential in sich trägt, und aus dem großes, wichtiges erwächst. Im Bezug auf das lyrische Ich kann das Bild des Samens verschieden gedeutet werden: Zum Einen als Hinweis darauf, dass die jungen Menschen, die den Krieg überleben die Eltern einer neuen Generation von Menschen nach dem Krieg sind, zum anderen so, dass das sich entfaltende Potential darin besteht, den kommenden Generationen von dem eigenen Erleben zu berichten und so mit den eigenen Erfahrungen als mahnende Erinnerer an eine Zeit zu wirken, die sich nie wiederholen darf. Jeder einzelne, Mensch kann mit seinem Wissen zur Aufklärung der anderen beitragen. Eben dieses Wissen um eine aus all dem Schrecklichen entstehende Verantwortung und Aufgabe könnte dem lyrischen Ich die Kraft zum Durchhalten gegeben haben.

Den Schluss des Gedichts bilden die folgenden zwei Verse: „Die Formel stand im zart gemeißelten Gipsgesicht des toten Fährmanns/ In den weit offnen blinden Augen.“ Für das Lyrische Ich verbirgt sich eine Formel, also das, was einen komplexen Zusammenhang in eine leicht zu handhabende Form bringt in dem Gesicht eines toten Fährmanns. Eine weitere Ausführung dahingehend, wie diese Formel geartet ist, entfällt. Das Gesicht des toten Fährmanns chiffriert etwas, was der Leser nicht direkt fassen oder eindeutig interpretieren kann. Erneut wird der Leser aber an die griechische Mythologie erinnert, in der ein Fährmann die Toten über den Fluss in der Unterwelt fährt. Welche Erkenntnis das lyrische ich aus dem Bild des Fährmanns jedoch letztendlich gewinnt, bleibt dem Leser verborgen.

 

Nach Beendigung der Analyse sehe ich meine Interpretationshypothese bestätigt. Das Gedicht stellt den Krieg, bzw. die unmittelbare Nachkriegszeit dar als eine Zeit, deren Umstände sich gravierend auf das menschliche Wesen auswirken. Das lyrische Ich steht in dem Gedicht wahrscheinlich stellvertretend für die Autorin selbst. Inge Müller hat den Krieg selbst erlebt und gerade das Jahr 1945, nach dem sie ihr Gedicht benennt, spielt in ihrer Biographie eine entscheidende Rolle. In diesem Jahr ist sie als Wehrmachtshelferin direkt in den Kampf um Berlin involviert. Sie erlebt die Grauen haunahe, ist drei Tage unter Trümmern verschüttet und muss ihre toten Eltern aus der Ruine des eigenen Hauses ausgraben. Obwohl sie der Tod allgegenwärtig umgibt bleibt sie selbst am Leben.

Beschäftigt man sich mit der Situation, die in Deutschland nach 1945 herrschte, wird es möglich, die Intention zu verstehen, mit der Inge Müller dieses Gedicht geschrieben haben könnte: Nach dem Krieg war bei vielen Deutschen keine selbstkritische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen während der zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gefragt. Der Blick der vom Krieg gezeichneten Menschen war mehr in die Zukunft gerichtet. Dieser Umstand muss gerade bei Menschen wie Inge Müller, die selbst derartig vom Krieg beeinflusst waren und im Gegensatz zu vielen anderen Menschen das Erlebte verarbeiten und sich damit auseinandersetzen wollten, sehr enttäuschend und unbefriedigend gewesen sein. Vielleicht stellt das Gedicht einen Teil der persönlichen Aufarbeitung des eigenen Schicksals Inge Müllers dar, in der Hoffnung geschrieben, dass es auch anderen Menschen hilft sich mit dem Krieg auseinander zu setzen. Ein Hinweis darauf, dass ihre Erlebnisse der Autorin zeitlebens schwer belastet haben müssen, ist die Tatsache, dass sie sich mit 41 Jahren nach mehreren gescheiterten Suizidersuchen schließlich das Leben nahm.

Vor den Hintergrund dieser Autorenbiographie gewinnt das Gedicht noch einmal eine tiefere Bedeutung. Es bringt zum Nachdenken und macht betroffen. Dadurch, dass es als Teil eines persönlichen Schicksals gesehen werden kann wird der Eindruck, den das Gedicht auf den Leser ausübt noch einmal intensiviert.

                                                                                                                Friedemann Adler © GBE - Grundkurs 2005

 

 Von Friedemann -  uns verbindet offensichtlich nicht nur Namensgleichheit, sondern auch Spaß an Literatur -  liegen noch zwei weitere exzellente Beiträge vor: ein  Gedichtvergleich und eine Redeanalyse

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