“... Lesen schadet den Augen! ”

Das Wintergedicht „Winternacht" von Nikolaus Lenau, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfasst wurde, befasst sich mit einer unglücklichen Liebe, die nicht länger bestehen und erkalten soll wie die nächtliche Kälte des Winters und dessen Atmosphäre. Nach meinem ersten Textverständnis soll das Gedicht verdeutlichen, wie schwierig es sein kann, verliebt zu sein und vor allem wie schwer es ist, eine Liebe zu vergessen.

Das Gedicht besteht aus drei Strophen mit jeweils vier Versen. Es ist ein einheitliches Versmaß von 4-hebigen Jamben pro Vers zu erkennen, wobei sich männliche und weibliche Kadenz abwechseln. So sind auch ausschließlich Kreuzreime als Reimschema verwendet worden. Dies könnte auch auf eine Wechselwirkung des geschilderten Problems hindeuten. Einerseits ist der Sprecher über seine Liebe unglücklich, andererseits will er sie vielleicht auch nicht verlieren.

Die erste Strophe „beschreibt“ vor allem die bittere Kälte, in der sich der Sprecher befindet. Dies geht darin über, dass in der zweiten Strophe nun seine Eindrücke der Umgebung deutlich werden. Sinngemäß völlig anders ist die dritte Strophe, worin er erstmals seine Wünsche und Hoffnungen vermittelt, die beinhalten, dass es in seinem Herzen genau so ruhig und kalt seine solle „Wie hier im nächtlichen Gefilde!" (V. 12). Doch schon in den vorangehenden Strophen werden zu der verzwickten Situation des lyrischen Ich Andeutungen gemacht: „Vor Kälte ist die Luft erstarrt" (V. l);  so beginnt das Gedicht. Hier könnte es sein, dass von vornherein dargestellt wird, wie eingeschränkt (erstarrt) die eigenen Fähigkeiten des Sprechers im Bezug auf das besagte Problem sind. Auf ein wirklich zerbrochenes Herz lassen die folgenden Zeilen schließen. „Es kracht der Schnee von meinen Tritten, / Es dampft mein Hauch, es klirrt mein Bart" (V. 2-3). Abgesehen von der hier zu erkennenden Anapher, die für eine Wiederholung spricht, könnte das Krachen bzw. das Klirren ebenso auf eine gebrochene Liebe hindeuten,  die hier also wiederholt werden. „Nur fort, nur immer fortgeschritten" (V. 4) heißt es nun. Es bedeutet entweder, dass der Sprecher vor seiner Liebe wegläuft, worauf man schließen könnte, wenn man bedenkt, dass er sich nachts, draußen, in bitterer Kälte, aufhält; oder aber es bedeutet, dass die Gefühle von ihm weichen sollen.

Die geschilderte Umgebung des Sprechers lässt sich ebenfalls auf das Problem übertragen. Eine Personifikation, „Wie feierlich die Gegend schweigt!" (V. 5), verdeutlicht zunächst, wie sehr sich das lyrische Ich nach Ruhe in seinem Herzen sehnt. Andererseits lässt der folgende Vers „Der Mond bescheint die alten Fichten," (V. 6) darauf schließen, dass der Sprecher vielleicht schon sozusagen ein Licht am Ende des Tunnels sieht, also darauf spekuliert, dass sich sein Schmerz bald bessern wird. Der besagte Satz geht allerdings weiter mit „Die, sehnsuchtsvoll zum Tod geneigt" (V. 7), was bedeuten könnte, dass das lyrische Ich auch schon an Selbstmord gedacht hat. Dieses wird aber im Folgenden widerlegt: „Den Zweig zurück zur Erde richten" (V. 8), heißt es, was ebenfalls eine wahrscheinliche Besserung vermuten lässt.

Der Liebeskummer des Sprechers wird also wörtlich zwar nur in der letzten Strophe deutlich; eigentlich aber ist jeder Vers dazu bestimmt, eine Parallele zwischen den winterlichen Witterungen und den verletzten Gefühlen des lyrischen Ich zu ziehen. Meine Interpretationshypothese wird also bestätigt; es werden tatsächlich die Schwierigkeiten geschildert, die bei einer unglücklichen Liebe auftreten; es wird aber auch ausgesagt, dass es auch hier einen Ausweg gibt.

Es ist bewundernswert, wie man ein Thema bzw. ein Problem mit anderen Worten so umschreiben kann, dass man ohne einen direkten Hinweis wie hier in der dritten Strophe wohl kaum einen Zusammenhang erkennen würde. Dies ist dem Verfasser sehr gut gelungen.

                                                                                                  

                                                                                                               Svenja Aberle  GBE Kl. 10 / 2006

                                                                                                                                                     PDF Druck

                                                                  

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