“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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                    Andreas Gryphius ( 1616 – 1664)

           

                       Das Erste Buch XLIX.

           

          An die Welt

           

              MEin offt bestürmbtes Schiff der grimmen Winde-Spil

          Der frechen Wellen Baal / das schir die Flutt getrennet /

          Das über Klipp auf Klipp und Schaum und Sandt gerennet /

              Komt vor der Zeit an Port / den meine Seele wil.

              Offt / wenn uns schwartze Nacht im Mittag überfil

          Hat der geschwinde Plitz die Segel schir verbrennet!

          Wie offt hab ich den Wind / und Nord' und Sud verkennet!

              Wie schadhafft ist Spreu / Mast / Steur / Ruder / Schwerdt und Kill.

          Steig aus du müder Geist / steig aus! wir sind am Lande!

          Was graut dir für dem Port / itzt wirst du aller Bande

              Vnd Angst / und herber Pein / und schwerer Schmertzen loß.

          Ade / verfluchte Welt: du See voll rauer Stürme!

          Glück zumein Vaterland / das stette Ruh' im Schirme

              Vnd Schutz und Friden hält / du ewig-lichtes Schloß!

 

 

In dem Barockgedicht „An die Welt“ von Andreas Gryphius geht es um den unvermeidlichen Tod, den Abschied von der Welt, der hier wie die Ankunft des Lebens als Schiff  im vorbestimmten Hafen dargestellt wird. Dabei versucht Gryphius nicht nur die Unausweichlichkeit des Sterbens entsprechend dem Motto „memento mori“ zu verdeutlichen, sondern ruft auch zum leidenschaftslosen Hinnehmen des eigenen Todes auf, feiert es sogar als Erlösung von Schmerzen und Ängsten.

 

Formal ist Gryphius’ Gedicht als Sonett aufgebaut. Diese für den Barock typische lyrische Form ist in vier Strophen, zwei Quartette mit je vier Versen, uns zwei Terzette mit entsprechend je drei Versen gegliedert. Inhaltlich geben die Quartette üblicherweise eine Darstellung eines Aspektes des Lebens oder der Welt, die in den Terzette zur Belehrung entsprechend der Grundsätze „carpe diem“, „memento mori“ und „vanitas mundi“ sowie der neustoischen Philosophie der Leidenschaftslosigkeit verdeutlicht wird. Ziel des Gedichts ist diese Belehrung des Lesers, die ihn an das Tugendideal des Barock heranführen soll. Dies soll mittels Beispielen und rhetorischen Figuren, vor allem der Antithetik geschehen, die auch durch das für den Barock typische Versmsaß, dem Alexandriner mit seiner abgrenzenden Mittelzäsur, unterstützt wird.

Gryphius wählt hier aus dem festen Lehrsatzangebot des Brock vor allem de Grundsatz „Memento mori“, „Gedenke deiner eigenen Sterblichkeit“, den er anhand des Beispiels eines auf einen Hafen zusteuernde Schiffes verdeutlicht. Diese Metapher, die das gesamte Gedicht durchzieht, wird in den beiden Quartetten aufgebaut. Das erste Quartett (Vers 1-4) „beschreibt“ dabei zunächst die allgemeine Situation des Schiffes als Sinnbild des Lebens, als Spielball (Vers 2) der Wellen und der Winde (Vers 1), als Vertreter des Schicksals, der „launischen Fahrten“, die das Schiff auf „Kliffe“ oder „Klippen“ (Vers 3) zutreiben und es auf „Sandt“ (Vers 3) laufen lassen, ist, geschildert.

 

In Vers  4 erreicht dieses Schiff „vor der Zeit“, also zu früh, seinen Zielhafen, „den meine Seele will“, und beendet so seine Reise. Auch wenn die Seele des lyrischen Ichs also mit diesem Ende der Reise einverstanden zu sein scheint, kommt es ihm doch allzu früh, das Leben erscheint zu kurz. Neben der Erinnerung des Lebens an den Tod ist dieses menschliche Grundproblem, gewissermaßen die Frage „Warum gerade jetzt?“ des Sterbenden, sowie die Angst vor dem Tod das zweite Hauptthema des Gedicht.

            Im zweiten Quartett  (Vers 5-8) wird dann das Motiv der Unberechendarbeit des Schicksals in mehreren Ausrufen weiter ausgebaut.

Selbst am Mittag, zur hellsten Zeit des Tages (Vers 5), kann man vom „Plitz“ (Vers 6) getroffen werden, der bleibend Verletzungen, hier bildlich als „Verbrennungen“ an der Seele hinterlässt. Das lyrische Ich bekennt sich frei zu seiner Überforderung angesichts dieser Unwägbarkeiten, es war oft nicht in der Lage „Wind, und Nord und Süd“ richtig einzuschätzen, also bewusst im Leben zu „ navigieren“ (Vers )  und entsprechend grosso sind die Schäden, die es davongetragen hat und die zu der Aufzählung von Schiffsteilen in Vers 8 verdeutlicht werden. Das Leben ist also mühsam, schmerzhaft und selbst mit größter Anstrengung nicht zu beherrschen. Ständig warten neune  Anforderungen auf den Menschen, der an ihnen immer schwächer  wird. Auch dieses grundmenschliche Problem ist Thema des Gedichts. Entsprechend der christlich-neustoischen Philosophie des Barock müssen solche Unsicherheiten des Lebens wie auch die Schmerzen als Prüfung „stoisch“ ertragen werden, immer im Bewusstsein der Erlösung und schließlich auch eines -  glückseliges Leben  versprechenden - Todes.  Dieser philosophische Standpunkt findet sich auch in den beiden Terzetten des Gedichts wieder.

Im ersten Terzett (Vers 9 - 11) ist das Schiff schließlich angekommen, der „müde Geist“ (Vers 9) wird in einem Ausruf aufgefordert, sein Schiff zu verlassen, sein Leben also loszulassen.

Auf die Angst des Menschen vor dessen „Loslassen“ in Vers 10 („ was graut dir für dem Port“ antwortet das lyrische Ich mit der Versicherung, „itzt wirst du aller Bande und Angst und herber Pein und schwerer Schmerzen los“ (Z 10/11).

Auch dem letzten, dem finalen Schicksalsschlag für den Menschen, dem Tod, kann also mithilfe der christlichen Stoa im Bewusstsein des jenseitigen Ewigen Lebens würdevoll und ruhig entgegengetreten werden. Das erste Terzett gibt also sowohl Antwort auf die in Vers 4 aufgeworfene Frage nach dem Ende des Lebens wie auch  Hilfe für die Bewältigung der im zweiten Quartett beschriebenen Schicksalsschläge.

Im zweiten Terzett wird diese Aussage schließlich noch zugespitzt, es bildet die „Pointe“ des Sonetts, die dem Leser im Gedächtnis bleiben soll. Der Welt, an die das Gedicht ja auch im Titel gerichtet ist, sagt das lyrische Ich“ Ade“, verflucht sie noch als „See voll rauer Stürme“ (Vers 12). Nun wendet er sich seinem Vaterland zu (Vers 13), wobei hier nicht die diesseitige, sondern die jenseitige Heimat gemeint ist, die „ewige Ruh“, „Schutz und Frieden“ (Vers 14) garantiert und schließlich als ewig lichtes Schloss im Gegensatz zur „See voll rauer Stürme“ des Diesseits gelobt und angerufen wird.

Mit dieser völligen Abkehr von der diesseitigen Welt macht Gryphius die „Vanitas“, die Nichtigkeit dieser Welt in der barocken Weltanschauung deutlich. Und diese Abkehr ermöglicht auch dem lyrischen Ich auf dem Weg ins Jenseits das Loslassen: Warum sollte man eine “raue See“  dem „ewig-lichten Schloß“ (Vers 14) vorziehen? So macht Gryphius entsprechend den obigen Lehrsätzen dem Leser das Problem der Unausweichlichkeit des eigenen Todes bewusst, gibt jedoch gleichzeitig Lösungsansätze für dieses Problem, die dem Leser auch schon im Leben zur barocken Tugend, der inneren Disziplin und leidenschaftslosen Ruhe im Angesicht aller gegenwärtigen und zukünftigen Schicksalsschläge, Leiden und Schmerzen bis hin zum Tod, verhelfen sollen. Die Vermittlung solcher Tugend und auch des stoischen Bewusstseins, dass auch Leid und Schmerz nur Führer zu dieser Tugend sind und  im Jenseits keine Bedeutung mehr haben, ist das oberste Ziel aller barocken Literatur. Dabei folgt Gryphius auch in allen Aspekten seiner Dichtung den strengen Anforderungen und Prinzipien der barocken Lyrik: die philosophische Aussage seines „lehrreichen Gedichtes“ bringt er mithilfe von einem Beispiel, nämlich dem Schiff und rhetorischen Mitteln, nämlich Ausrufen (Vers 5/6; 7,8,9,12) und Antithesen, wie z.B. der Gegenüberstellung der diesseitigen und jenseitigen Welt wiederum in Metapher in Vers 12 und 14 zum Ausdruck.

So kann dieses Gedicht nicht nur formal aufgrund von altertümlicher Rechtschreibung und Sonettform, sondern auch vom inhaltlichen Aufbau und der Aussage her eindeutig der Barockepoche zugeordnet werden.

 

 

 Lehrerkommentar:

 Sie liefern hier ein gelungene, sehr souverän entfaltete Gesamtdeutung und zeigen, dass Sie genau am Text arbeiten, zugleich aber auch werkexterne Kenntnisse (der Philosophie) angemessen einbinden können. 

(Mündlich: Zu dieser tollen Leistung wäre ich als Schüler nicht in der Lage gewesen, Bernhard!)

  

                                          Bernhard Angele (copyright)  - GBE Grundkurs Jg 12  - 2000

   

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