“... Lesen schadet den Augen! ”

 

IMG_0010-red

                          Das dürre Blatt – Nikolaus Lenau  (Gedichtinterpretation)

 

          Nikolaus Lenau  (1802 – 1850)

          Das dürre Blatt

           

          Durchs Fenster kommt ein dürres Blatt,

          Vom Wind hereingetrieben;

          Dies leichte, offne Brieflein hat

          Der Tod an mich geschrieben.

           

          Das dürre Blatt bewahr ich mir,

          Will's in die Blätter breiten,

          Die ich empfangen einst von Ihr;

          Es waren schöne Zeiten!

           

          Da draußen steht der Baum so leer;

          Wie er sein Blatt im Fluge,

          Kennt sie vielleicht ihr Blatt nicht mehr,

          Trotz ihrem Namenszuge.

           

          Der toten Liebe Worte flehn,

          Dass ich auch sie vernichte;

          Wie festgehaltne Lügner stehn

          Sie mir im Angesichte.

           

          Doch will ich nicht dem holden Wahn

          Den Wurf ins Feuer gönnen;

          Die Worte sehn mich traurig an,

          Daß sie nicht sterben können.

           

          Ich halte fest, zu bittrer Lust,

          Was all mein Glück gewesen,

          In meinen schmerzlichen Verlust

          Will ich zurück mich lesen.

           

          Das dürre Blatt leg ich dazu,

          Des Todes milde Kunde,

          Dass jedes Leiden findet Ruh,

          Und Heilung jede Wunde.

 

 

Nikolaus Lenau, der von 1802 – 1850 lebte, verfasste das von mir zu interpretierende Gedicht „Das dürre Blatt“. Er ist in der deutschen Literaturgeschichte in die Zeit der Romantik bzw. des Biedermeier einzuordnen.

Geschichtlich wurde diese Zeit geprägt durch den Kampf um die Unabhängigkeit Nordamerikas (1776), die Französische Revolution (1789) und die Kaiserkrönung Napoleons (1804).

Das Gedicht ist in sieben Strophen à vier Verse gegliedert. Drei– und vierhebige Jamben sind das Versmaß,  Vers 1 und 3 der Strophen vierhebig,  Vers 2 und 4 dreihebig, sodass die Verslängen deutlich unterschiedlich sind. Das Gedicht ist im Hakenstil mit Zeilensprüngen verfasst. Das Reimschema ist durchgehend der Kreuzreim mit männlichen und weiblichen Kadenzen, die ebenfalls im Wechsel zueinander stehen.

Lenau benutzt Vergleiche („Wie festgehaltne Lügner stehn“  Worte der toten Liebe - V 15 -) und Metaphern (Zitat: „Das dürre Blatt bewahr ich mir“ – V 5).

Das Herbstgedicht arbeitet mit dem typischen  Inventar der Herbstlyrik. Lenau verwendet Metaphern und Vergleiche des Herbstes um den Menschen darzustellen. In diesem Gedicht wird der Bezug des Menschen zur Natur sehr deutlich. Der Titel des Gedichts schafft eine direkte Verbindung zum Textinhalt.

Das lyrische Ich schreibt in der ersten Strophe über ein dürres Blatt, das vom Wind in sein Zimmer geweht wurde. Es redet vom Tod. In der zweiten Strophe erinnert sich der Sprecher an vergangene Zeiten seiner Liebe, die sehr schön waren, und legt das Herbstblatt zu den alten Briefbogen, die er „.empfangen einst von ihr“  (V 7).  Die dritte  Strophe handelt von der Angst und Sorge des lyrischen Ich,  dass seine Geliebte sich nicht mehr erinnern will an das, was sie ihm mal geschrieben hat. Seine schmerzlichen Erinnerungen an sie dringen besonders in Strophe vier durch: „Der toten Liebe Worte flehn, / dass ich auch sie vernichte“ (V 13-14) .  Der Sprecher will  diese Erinnerungen abschütteln; doch in der fünften Strophe wird ihm bewusst, dass er dies nicht kann. Nun will er sie sogar festhalten und (beim Lesen des Briefblattes; Ad) an seine Liebe denken, was in Strophe sechs deutlich wird: „In meinen schmerzlichen Verlust/ Will ich zurück mich lesen“ (V 23-24). Damit, so Strophe sieben, will das lyrische Ich die Wunde bzw. den Schmerz lindern. Das dürre Blatt (bzw. verwelkende Herbstblatt;  Ad) zeigt ihm, „dass jedes Leiden findet Ruh“  (V 27). 

In dem Gedicht geht es um den Verlust einer Liebe und um die schmerzhafte Erinnerung an diese. Die tiefe Tristesse und die Einsamkeit werden sehr deutlich anhand seiner Formulierungen. Ich vermute, dass, kurz bevor Lenau das Gedicht verfasste, eine Person, die er sehr geliebt haben muss, gestorben oder zumindest aus seinem Leben fort gegangen ist. Mit dem Gedicht versucht der Autor diesen Verlust zu verarbeiten, indem er über seine Gefühle und Gedanken schreibt.

Dieses Gedicht hat mir gut gefallen, da es nicht so „verschlüsselt“ ist und man somit leichter den Inhalt versteht. Jeder Mensch, der schon mal einen schmerzhaften Verlust erlitten hat, kann so die Gefühle des lyrischen Ichs besser nachvollziehen und sich vielleicht auch mit dem Gedicht identifizieren.

 

                                                  Julia Altenkirch ©  GBE Kl. 9    11/ 2006

 

> PDF - Lenaus dürres Blatt

> Winternacht

> Erinnerung

> Aufsatzform Herbstgedichte 2