Walter von der Vogelweide (ca. 1170 – 1230)
Dô gotes sun hie in erde gie,
do versuchten in die juden ie.
sam tâtens eines tages mit dirre frâge.
Si frâgeten ob ir frîez leben
dem rîche iht zinses solte geben.
dô brach er in die huote und al ir lâge.
Er iesch ein münizîsen,
er sprach >wes bilde ist hie ergraben?<
>des kaisers<, sprâchen dô die merkaere.
dô riet er den unwîsen
daz si den keiser liezen haben
sîn küneges reht, und got swaz gotes waere.
Als Gottes Sohn hier auf der Erde war
überprüften die Juden oftmals seine Gesetzestreue.
So kamen sie eines Tages mit der Frage
ob sie als Freie überhaupt verpflichtet seien
dem Reichsoberhaupt Steuerzinsen zu geben.
Da durchbrach er ihre Unaufrichtigkeit
erbat sich eine Münze und
fragte: Wessen Abbild ist hier erfasst?
„Das des Kaiser“, sprachen die Gesetzesausleger.
Da riet er den Verstockten
dem Kaiser zu lassen,
was als Kaiserrecht empfunden wird, und Gott
was Gott gehört.
Adaption: Erich Adler©
Geistliche Lyrik unter dem Einfluss der Jesus-Minne - Friedrich Spee ist aber
neben seiner Zugehörigkeit zur Mystik auch als „Hexenbeichtvater“ bekannt
geworden, der mit einer anonymen lat. Veröffentlichung des „Gewissenspiegels
der Nation“ (cautio criminalis) auch im Klerus ein Umdenken in der leidvollen
Geschichte europäischer Hexenverfolgung eingeleitet hat.
Die gespons JESV lobet Gott (Anm.: die Gespons = die Braut)
bey dem gesang der Vögelein.
1.
Offt morgens in der kühle
Noch vor dem Sonnenschein,
Wan JESV pfeil ich fühle
Zu scharpff, vnd hitzig sein,
Mitt frewden mich verfüge
Zum grünen wald hinein;
Wolt Gott nun dapffer schlüge
Der klang der Vögelein.
2.
O Vöglein ihr ohn sorgen,
Als newlich kam hinein,
Ein Liedlein must euch borgen;
Wil nu bezahlet sein.
Nun mahnet auff zur stunde
Den besten athem gut,
Nun schöpfft von hertzengrunde
Vom best gesibten blut.
3.
Mitt bester Stimm last klingen
Den höchst- vnd besten ton:
Durch wolcken soll sichs dringen,
Biß zu dem Gottes thron.
Nun da, da thuts erklingen,
Nun da, da recht, vnd fein:
Ja so, so müßet singen
Jhr lautbar Vögelein.
4.
O Nachtigal du schöne!
Verdienest rechter weiß,
Man Dich fürnehmlich kröne
Mitt höchstem Ehrenpreiß.
Wie magst es je doch machen
So sauber, glatt, vnd rund?
Das hertzlein dir mögt krachen
Förcht Jch, wans geht zu bunt!
5.
Thust wunder, wunder zwingen
Den athem hundertfalt,
Kein Vöglein ist, im singen
So Dir die farben halt.
Wan Dich man mercket kommen
Offt zum gemeinen hauff,
Fast alle gleich erstummen,
Die Zünglein zäumens auff.
6.
Doch ietzet sie nitt schweigen,
Nitt feyrens diser frist,
Jetzt alle sie sich zeigen,
Weil Gott zu loben ist.
Keins wil nun keinem weichen,
Sich brauchens groß, vnd klein,
Laut spielend gehn durchstreichen
Das frölig wäldelein.
7.
O süssigkeit der stimmen,
Wie pfeiffens also rein!
Jm lufft wie lieblich schwimmen
Die fliegend psälterlein?
Wie zierlich thuts erschallen
Jm krauß, vnd holen holtz?
Wil Mirs ia bas gefallen
Als alle Músic stoltz.
8.
Die Bäumlein reich von zweigen
Auch sangweiß sausen gan,
Zum Gotteslob sich neigen,
Vom Wind geblasen an.
Die Bächlein auch nun rauschen,
Vnd fröilg klinglen zu,
Nitt bald den ton vertauschen,
Bleibt gleicher klang ohn ruh.
9.
Ey wo nun seind im gleichen,
Wo seind all menschenspil?
Ach woltens ja nitt weichen,
Sich sammlen eben vil:
Ach woltens gleicher massen
Bey diser Music sein,
Sich auch mitt hören lassen
Vnd sämptlich stimmen ein.
10.
O Gott was frewd im hertzen,
Was lust ich schöpffen thät?
Wan heut zur Prim, vnd Tertzen,
Sext, Non, vnd Vesper späth,
Zu wegen ich könd bringen
Dem lieben GottesSohn,
Vor Jhm daß mögt erklingen
So starck gemischter ton!
11.
Her, her all jnstrumenten,
So seind in gantzer welt,
All Fugen, vnd Concenten
So vil die Music zehlt:
Her, her, all MenschenStimmen,
Last immer, immer gan,
Mans nie doch wird erklimmen
O Was Gott gebüren kan.
12.
Je mehr man ihn erhoben,
Gelobt, vnd ehret hatt,
Je mehr man ihn zu loben
Noch allweg lasset statt.
Drumb spielet, vnd psalliret,
Was ie nur spilen kan.
Springt, lauchtzet, iubiliret,
Lust, frewd ihm stellet an.
Friedrich von Logau ( 1604 – 1655)
Gott dient allen; wer dient jhm.
GOtt schafft / erzeucht / trägt / speist / tränckt / labt / stärckt / nährt / erquickt /
Erhält/ schenckt / sorgt beschert / vermehrt / gewehret /schickt/
Liebt / schützt / bewahrt erlöst beschattet / benedeyt
Schirmt / sichret / führt / regirt errettet / hilfft / befreyt /
Erleuchtet / vnterweist / erfreut sterbt vnd erweckt /
So / daß sich fort vnd fort sein Heil auff vns erstreckt;
Mit allem dienstu / Gott / vns allen! ist auch wol:
Der dir dient einer nur / vnd dient dir wie er sol?
*
Friedrich von Logau ( 1604 – 1655)
Glauben
Lutherisch, Päpstisch und Calvinisch, diese Glauben alle drei
Sind vorhanden; doch ist Zweifel, wo das Christentum dann sei.
Andreas Gryphius (1616 – 1664)
Abend
Der schnelle Tag ist hin, die Nacht schwingt ihre Fahn‘,
Und führt die Sternen auf. Der Menschen müde Scharen
Verlassen Feld und Werk, wo Tier‘ und Vögel waren
Trau’rt itzt die Einsamkeit. Wie ist die Zeit vertan!
Der Port naht mehr und mehr sich zu der Glieder Kahn.
Gleich wie dies Licht verfiel, so wird in wenig Jahren
Ich, du und was man hat und was man sieht, hinfahren.
Dies Leben kommt mir vor als eine Renne-Bahn.
Laß, höchstern Gott, mich doch nicht auf dem Laufplatz gleiten,
Laß mich nicht Ach, nicht Pracht, nicht Lust, nicht Angst verleiten.
Dein ewig heller Glanz sei vor und neben mir,
Laß, wenn der müde Leib entschläft, die Seele wachen,
Und wenn der letzte Tag wird mit mir Abend machen,
So reiß mich aus dem Tal der Finsternis zu dir.
Angelus Silesius (Johannes Schefffler) (1624 - 1677)
Gott lebt nicht ohne mich
Ich weiß dass ohne mich GOtt nicht ein Nun kann leben/
Wer’ ich zunicht Er muss von Noth den Geist auffgeben.
Barthold Heinrich Brockes (1680 – 1747)
Ach HERR! eröffne mein Verständnißl
Ach gieb mir Weisheit und Erkäntniß /
Der Dinge Wesen zu betrachten /
Und in denselben Dich zu achten /
Weil alles / Dich zu ehren / lehrt.
Nicht nur der Himmel Raum / nicht nur der Sonnen Schein /
Nicht der Planeten Gröss' allein;
Ein Stäubchen / ist bewunderns wehrt.
 |
Barthold Heinrich Brockes (1680 – 1747)
Kirschblüte bei Nacht
Ich sahe mit betrachtendem Gemüte
Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte,
In kühler Nacht beim Mondenschein;
Ich glaubt‘, es könne nichts von größrer Weiße sein.
Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der kleinste Ast
Trug gleichsam eine rechte Last
Von zierlich-weißen runden Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt,
indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
Sogar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.
Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was Weißers ausgefunden werden.
Indem ich nun bald hin, bald her
Im Schatten dieses Baumes gehe,
Sah ich von ungefähr
Durch alle Blumen in die Höhe
Und ward noch einen weißern Schein,
Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein
Bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht
Von einem hellen Stern ein weißes Licht,
Das mir recht in die Seele strahlte.
Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergetze,
Dacht ich, hat Er dennoch weit größre Schätze.
Die größte Schönheit dieser Erden
Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.
(1727)
Johann Peter Uz (1720 – 1796)
Theodicee
Mit sonnenrotem Angesichte
Flieg ich zur Gottheit auf! Ein Strahl von ihrem Lichte
Glänzt auf mein Saitenspiel, das nie erhabner klang.
Durch welche Töne wälzt mein heiliger Gesang,
Wie eine Flut von furchtbarn Klippen
Sich strömend fort und braust von meinen Lippen!
Ich will die Spötter niederschlagen,
Die vor dem Unverstand, o Schöpfer, dich verklagen:
Die Welt verkündige der höhern Weisheit Ruhm!
Es öffnet Leibniz mir des Schicksals Heiligtum,
Und Licht bezeichnet seine Pfade,
Wie Titans Weg vom östlichen Gestade.
Die dicke Finsternis entweiche,
Die aus dem Acheron, vom stygischen Gesträuche
Mit kaltem Grausen sich auf meinem Wege häuft,
Wo stolzer Toren, Schwarm in wilder Irre läuft
Und auch der Weise furchtsam schreitet,
Oft stillesteht und oft gefährlich gleitet.
Die Risse liegen aufgeschlagen,
Die, als die Gottheit schuf, vor ihrem Auge lagen:
Das Reich des Möglichen steigt aus gewohnter Nacht.
Die Welt verändert sich mit immer neuer Pracht
Nach tausend lockenden Entwürfen,
Die eines Winks zu schnellem Sein bedürfen.
Doch Dämmerung und kalte Schatten
Gehn über Welten auf, die mich entzücket hatten:
Der Schöpfer wählt sie nicht! Er wählet unsre Welt,
Der Ungeheuer Sitz, die, Helden beigesellt,
In ewigen Geschichten strahlen,
Der Menschheit Schmach, das Werkzeug ihrer Qualen.
Eh ihn die Morgensterne lobten
Und aufsein schaffend Wort des Chaos Tiefen tobten,
Erkor der Weiseste den ausgeführten Plan.
Und wider seine Wahl will unser Maulwurfswahn
In stolzer Blindheit recht behalten
Und eine Welt im Schoß der Nacht verwalten?
Von welcher Sonne lichtem Strahle
Weicht meine Finsternis! Wie, wann aus feuchtem Tale
Der frühe Wandersmann auf hohe Berge dringt,
Schnell eine neue Welt vor seinem Aug entspringt,
Und Reiz die große Weite zieret,
Wo sich der Blick voll reger Lust verlieret.
Denn Fluren, die von Blumen düften,
Gefilde voll Gesangs und herdenvolle Triften
Und hier kristallne Flut, vom grünen Wald umkränzt,
Dort ferner Türme Gold, das durch die Wolken glänzt,
Begegnen ihm, wohin er blicket.
So wird mein Geist auf seinem Flug entzücket.
Ich habe mich emporgeschwungen!
Wie groß wird mir die Welt! Die Erde flieht verschlungen.
Sie macht nicht mehr allein die ganze Schöpfung aus.
Welch kleines Teil der Welt ist Rheens finstres Haus!
Und Menschen, welche kleine Herde
Seid ihr nur erst auf dieser kleinen Erde!
Gönnt gleiches Recht auf unserm Balle
Geschöpfen andrer Art! Ihr Schöpfer liebt sie alle.
Die Weisheit selbst entwarf der kleinsten Fliege Glück.
Ihr Schicksal ist bestimmt, so gut als Roms Geschick
Und als das Leben einer Sonne,
Die glänzend herrscht in Gegenden der Wonne.
Seht, wie in ungemeßner Ferne
Orion und sein Heer, ein Heer bewohnter Sterne,
Vor seinem Schöpfer sich in lichter Ordnung drängt.
Er sieht, er sieht allein, wie Sonn an Sonne hängt,
Und wie zum Wohl oft ganzer Welten
Ein Übel dient, das wir im Staube schelten.
Er sieht mit heiligem Vergnügen
Auf unsrer Erde selbst sich alle Teile fügen
Und Ordnung überall, auch wo die Tugend weint;
Und findet, wann sein Blick, was bös und finster scheint,
Im Schimmer seiner Folgen siehet,
Daß, was geschieht, aufs beste stets geschiehet.
Die ihr ein Stück vom Ganzen trennet,
Vom Ganzen, das ihr bloß nach euerm Winkel kennet,
Verwegen tadelt ihr, was Weise nicht verstehn.
O könnten wir die Welt im Ganzen übersehn,
Wie würden sich die dunkeln Flecken
Vor unserm Blick in größern Glanz verstecken!
Soll Welten alles Böse fehlen?
So mußte nie den Staub der Gottheit Hauch beseelen;
Denn alles Böse quillt bloß aus des Menschen Brust.
So muß der Mensch nicht sein: welch größerer Verlust!
Die ganze Schöpfung würde trauern,
Die Tugend fliehn und ihren Freund bedauern.
Ihr Weisen hättet nie entzücket,
Die ihr die Schöpfung mehr als hundert Sonnen schmücket,
Und Ordnung herrschte nicht im Reiche der Natur,
Die niemals flüchtig springt und stufenweise nur
Auf ihrer güldnen Leiter steiget,
Wo sich der Mensch auf mittlern Sprossen zeiget.
Vom Wurme, der voll größter Mängel
Auf schwarzer Erde kreucht, und vom erhabnen Engel
Sind Menschen gleich entfernt und beiden gleich verwandt.
Ihr freier Wille fehlt, ihr himmlischer Verstand
Entflieget nie der engen Sphäre.
Stets fesselt ihn des Leibes träge Schwere.
In allen Ordnungen der Dinge,
Die Gott als möglich sah, war Menschenwitz geringe.
Der Mensch war immer Mensch, voll Unvollkommenheit.
Durch Tugend soll er sich aus dunkler Niedrigkeit
Zu einem höhern Glanz erheben,
Unsterblich sein nach einem kurzen Leben.
Mein Schicksal wird nur angefangen,
Hier, wo das Leben mir in Dämmrung aufgegangen,
Mein Geist bereitet sich zu lichtern Tagen vor
Und murrt nicht wider den, der mich zum Staub erkor,
Mich aber auch im Staube liebet
Und höhern Rang nicht weigert, nur verschiebet.
Novalis (Friedrich Freiherr von Hardenberg; 1772 – 1801)
XII
Wenn in bangen trüben Stunden
Unser Herz beinah verzagt,
Wenn von Krankheit überwunden
Angst in unserm Innern nagt;
Wir der Treugeliebten denken,
Wie sie Gram und Kummer drückt,
Wolken unsern Blick beschränken,
Die kein Hoffnungsstrahl durchblickt:
O! dann neigt sich Gott herüber,
Seine Liebe kommt uns nah,
Sehnen wir uns dann hinüber,
Steht sein Engel vor uns da,
Bringt den Kelch des frischen Lebens,
Lispelt Mut und Trost uns zu;
Und wir beten nicht vergebens
Auch für die Geliebten Ruh.
XIV
Ich sehe dich in tausend Bildern
Maria, lieblich ausgedrückt,
Doch keines von allen kann dich schildern,
Wie meine Seele dich erblickt.

Ich weiß nur, dass der Welt Getümmel
Seitdem mir wie ein Traum verweht,
Und ein unnennbar süßer Himmel
Mir ewig im Gemüte steht.
*
aus: Geistliche Lieder (entst. 1799/1800)
Carl Theodor Körner (1791 - 1813)
Christi Erscheinung in Emmaus
Zwei Tage sind’s, daß Christus ausgelitten,
Und traurig gehen auf betretnen Wegen
Der Jünger zwei in düsteren Gesprächen;
Da kommt der Herr zu ihnen hergeschritten
Und unerkannt geht er in ihrer Mitten,
Lehrt sie die heil’gen Bücher auszulegen.
So wandern sie dem nahen Ort entgegen
Und treten endlich ein in seine Hütten.
Der Meister setzte sich zu ihnen nieder
Und nahm das Brot und dankete und brach’s.
Da ward es hell vor seiner Jünger Blicke
Und sie erkannten den Messias wieder;
Doch er verschwand. Schnell kehrten sie zurücke
Und priesen laut die Wunder dieses Tags.
*
Luise Hensel (1798 - 1876)
In einer Dorfkirche
Immer muss ich sein gedenken,
Immer seiner Huld mich freun,
Immer her die Schritte lenken
Zu dem Kirchlein arm und klein.
O du Wunder aller Gnade,
Das der kleine Schrein umschließt!
Ja, in dieser armen Lade
Wohnt er, dem das All entfließt.
O des Glückes, das der Glaube
Seiner Gegenwart mich lehrt!
O der Wonne, die im Staube
Meine Seele schon erfährt!
Seele, und du schaust noch trübe
Auf die Dinge niederwärts?
Gibt's für dich noch andre Liebe?
Erdenfreude? Erdenschmerz?
Sieh' in dieser Silberschale
Ruht dein Gott, dein einzig Gut!
Und du darbst beim reichsten Mahle?
Und du frierst bei höchster Glut?
Auch der kleinen Ampel Schimmer
Mahnt dich, ganz für ihn zu glühn,
Herz, o säumst du denn noch immer,
Ganz in Flammen zu versprühn?
Langenberg, 1856.

Else Lasker-Schüler (1869 – 1945)
Gebet
Ich suche allerlanden eine Stadt,
Die einen Engel vor der Pforte hat.
Ich trage seinen großen Flügel
Gebrochen schwer am Schulterblatt
Und in der Stirne seinen Stern als Siegel.
Und wandle immer in der Nacht...
Ich habe Liebe in die Welt gebracht...
Dass blau zu blühen jedes Herz vermag.
Und hab ein Leben müde mich gewacht,
In Gott gehüllt den dunklen Atemschlag.
O Gott, schließ um mich deinen Mantel fest;
Ich weiß, ich bin im Kugelglas der Rest,
Und wenn der letzte Mensch die Welt vergießt,
Du mich nicht wieder aus der Allmacht lässt
Und sich ein neuer Erdball um mich schließt.
(aus: Meine schöne Mutter blickte immer auf Venedig)
Else Lasker-Schüler (1869 – 1945)
An Gott
Du wehrtest den guten und den bösen Sternen nicht;
All ihre Launen strömen.
In meiner Stirne schmerzt die Furche,
Die tiefe Krone mit dem düsteren Licht.
Und meine Welt ist still –
Du wehrtest meiner Laune nicht.
Gott, wo bist du?
Ich möchte nah an deinem Herzen lauschen,
mit deiner fernsten Nähe mich vertauschen,
wenn goldverklärt in deinem Reich
Aus tausendseligem Licht
Alle die guten und die bösen Brunnen rauschen.
*
 |
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)
Gott im Mittelalter
UND sie hatten Ihn in sich erspart
und sie wollten, dass er sei und richte,
und sie hängten schließlich wie Gewichte
(zu verhindern seine Himmelfahrt)
an ihn ihrer großen Kathedralen
Last und Masse. Und er sollte nur
über seine grenzenlosen Zahlen
zeigend kreisen und wie eine Uhr
Zeichen geben ihrem Tun und Tagwerk.
Aber plötzlich kam er ganz in Gang,
und die Leute der entsetzten Stadt
ließen ihn, vor seiner Stimme bangen,
weitergehn mit ausgehängtem Schlagwerk
und entflohn vor seinem Zifferblatt.
(1907)
Reinhard Johannes Sorge (1892 – 1916)
Gebet
O mein Herr,
In dein Aug
Nimm mich auf!
Leis dein Mund
Zieh mich an!
O mein Herr!
Seufzst du auf,
Hauche mich,
Sinkst du tief,
Nimm mich ein!
*
Albert Hiemer © (1907 – 1990)
Kommunionkind im Schaufenster
Der Knabe steif
und ohne Glaube.
An seiner Kerze
lebt kein Licht.
Das Sakrament
empfängt er nicht.
Albert Hiemer © (1907 – 1990)
In der Kirche
Schwarze Noten
sind auf die weißen
Wände geschrieben.
Wir müssen sie
absingen.
Die Finger des Priesters
sind golden vom Kelch.
Jesus
seufzt im Brot.
Albert Hiemer © (1907 – 1990)
Allerseelen
Im Nebel
sinken Lichter.
Erde hebt sich leise
gegen Hände.
Man sagt Namen,
die auf Steinen stehn.
Hans Bender (1919 - 2015)
Gibt es noch Engel?
Ich hätte nichts dagegen,
schwerelos wie sie mich zu bewegen.
Mit ihnen zu musizieren, zu singen.
Mit ihnen mich schlafen zu legen.
*
Ich danke Hans Bender sehr herzlich für die Abdruckerlaubnis des Vierzeilers,
- s. a. Dichter - Handwerk - Herbst - Liebe - Mensch - veröffentlicht in:
AKZENTE. Zeitschrift für Literatur, hrsg. von Michael Krüger Carl Hanser Verlag Juni 2008
(Der Kölner Autor, den ich in der Taubengasse 11 besuchen durfte, verstarb am 28. Mai 2015. R.I.P.)
*
Kurt Marti (1921 - 2017)
wenn ich gestorben bin
hat sie gewünscht
feiert nicht mich
und auch nicht den tod
feiert DEN
der ein gott von lebendigen ist
wenn ich gestorben bin
hat sie gewünscht
zieht euch nicht dunkel an
das wäre nicht christlich
kleidet euch hell
singt heitere lobgesänge
wenn ich gestorben bin
hat sie gewünscht
preiset das leben
das hart ist und schön
preiset DEN
der ein gott von lebendigen ist
aus: Kurt Marti, Leichenrede. Sammlung Luchterhand Darmstadt und Neuwied, 1976, S. 19
Pfarrer Kurt Marti nach seiner schweren Erkrankung ein sehr herzliches Dankeschön für die Abdruckerlaubnis
und Gottes Segen – Ende August 2007. - Der Schweizer Autor verstarb 2017. R.I.P.
Eva Zeller © (* 1923)
Wer weiß
Wer weiß
ob nicht
der Schnee
von gestern
heute fällt
Wer weiß
ob nicht
mein Kinderglaube
das letzte
Wort behält
*
Eva Zeller, Das unverschämte Glück. Neue Gedichte, Radius Verlag Stuttgart 2006, S. 22
Eva Zeller, Das unverschämte Glück. Neue Gedichte, Radius Verlag Stuttgart 2006, S. 24
Der Autorin Eva Zeller für die am 26. 08. 2011 spontan zugesandten Texte, die freundlichen Worte zu meinem Lyrikschadchen
und die Befreiung vom Copyright ganz herzlichen Dank.
Horst Bingel (1933 – 2008)
Gebetsversuch
Auf meinem Teppich liegt
kein Elefant.
Aus meinem Garten legen
sie aus dem Teich hin
ter der Wand des Teehauses
die letzten
letzten Fische auf den Wagen
des Metzgers über
dem Himmel. Mei
ster der Bäume, was
sollen die Fische
dir singen?
aus:
Horst Bingel, Den Schnee besteuern. Gedichte.. Hrsg. von Werner Bucher und Virgilio Masciadri. orte-Verlag, Oberegg AI und
Zürich 2009, S. 60 - Frau Barbara Bingel ganz herzlichen Dank für die Abdruckerlaubnis.
Albert von Schirnding (* 1935)
Ende einer Belagerung
Unter dem unaufhörlichen
Beschuß deines Schweigens
sind mir die Wörter
ausgegangen
Eingestürzt ist
der Mauerbau meiner Sätze
vor dem Ansturm deiner atemberaubenden
Unsichtbarkeit
Mit nackten Händen
werfe ich jetzt
aus blindem Schmerz
gebackene Brocken
dann mich selber
dem Todesstoß
deines unsagbaren Ausbleibens
entgegen
*
aus: Albert von Schirnding: Übergabe. Achtzig Gedichte. Ebenhausen b. München 2005, S. 41 und S. 77 -
Langewiesche-Brandt KG
Albert von Schirnding (*1935)
Verlassene Beichtstühle
Wo sind die Sünden geblieben
die Angst ums Seelenheil
der Durst nach deinem Teil
an Seligkeit im Drüben
Die Reue schmeckte bitter
erstickte dein Begehrn
Den Freispruch durch das Gitter
wolltest du nicht entbehrn
Wohin die Lust verflogen
die früh schon böse hieß
Du bist um die Hölle betrogen
wie um das Paradies
*
Albert von Schirnding (*1935)
Plädoyer für Ohnmacht
Geh auf leichten Sohlen
über Kies und Sand
Laß dich überholen
Laß dich überwinden
von einer fremden Hand
Flieh – und laß dich finden
Gib endlich dich verloren
an ungekanntes Land
Sei wieder ungeboren
*
aus: Albert von Schirnding, War ich da? Gedichte, Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 2010, S. 24
Dem Autor für die spontane Antwort vom 16. 02. 2012 und sein großzügiges Einverständnis mit der Gedichtauswahl für einen Abdruck ganz herzlichen Dank. (Ad)
Michael Krüger (* 1943)
Natürlich kann man sich
den Schöpfer des Universums
als einen Gaukler denken.
Alles verruchtes Spiel,
Ausdruck beginnender Müdigkeit.
Nur manchmal, wenn wir
am Abend, einer Gewohnheit folgend,
uns auf der Wiese versammeln,
um die Nacht still zu begrüßen,
sind wir vor Staunen sprachlos:
Um uns zu foppen, zeigt er uns
Proben seines großen Talents.
aus: Michael Krüger, Unter freiem Himmel. Gedichte, Suhrkamp Verlag 2S. 17
Dem Autor für seine großzügige Abdruckerlaubnis im Anschluss an die 300. LITTERA- Lesung in Osnabrück am 16. 02. 2016
ganz herzlichen Dank.
Doris Runge (* 1943)
exerzitien
der dornbusch
brennt
der ahorn der wein
der teichmönch
murmelt
gebete
die grünen riesen
kriechen
zu kreuz
lassen ab
laub
auf den steinen
ein herrenloser
hund
bespringt die spur
*
(aus: Doris Runge, du also. Gedichte, DVA München 2003, S. 22)
Der Autorin für die Abdruckerlaubnis vom 03. 04. 2017 ganz herzlichen Dank.
Andreas Knapp (*1958)
Gott
Unwort der Jahrtausende
blutbesudelt und missbraucht
und darum endlich zu löschen
aus dem Vokabular der Menschheit
Redeverbot von Gott
getilgt werde sein Name
die Erinnerung an ihn vergehe
wie auf Erden so im Himmel
wenn unsere Sprache aber
dann ganz gottlos ist
in welchem Wort
wird unser Heimweh wohnen
wem schreien wir noch
den Weltschmerz entgegen
und wen loben wir
für das Licht
*
(aus: Andreas Knapp, Brennender als Feuer. Geistliche Gedichte. Regensburg 2010 (5) Echter Verlag, S. 10)
Andreas Knapp (*1958)
Gott von Gott
Gott führt keine Selbstgespräche
und lächelt nicht frostig
in den Spiegel der Einsamkeit
Gott redet nicht ins Blaue
sein Mund findet ein Ohr
auf Du und Du
das Wort in Gott
gibt selber wieder Antwort
und immer so fort
denn Gott als Liebe
ist Geben und Empfangen
in ewigem Zugleich
(aus: Andreas Knapp, Tiefer als das Meer. Gedichte zum Glauben, Regensburg 2009 (3) Echter Verlag , S. 23)
Ich danke dem Autor Andreas Knapp für seine aufmunternde briefliche Antwort vom 24. 10. 2014 und dem Echter Verlag für die
Abdruckerlaubnis, um die ich Bruder Andreas nach seiner schönen Lesung am 13. Oktober im Dom Forum („Die Erdichtung Gottes.
Wie wir von Gott reden können“) gebeten hatte.
Glaub’s oder glaub’s nicht - kein Copyright
Nelly Sachs (1891 – 1970)
Schmetterling (Welch schönes Jenseits ist in deinen Staub gemalt)
Marie Luise Kaschnitz (1901 - 1974)
Auferstehung (Manchmal stehen wir auf)
Hilde Domin (1909 – 2006)
Ecce Homo (Weniger als die Hoffnung auf ihn)
Paul Celan (1920-70)
Mandorla (In der Mandel – was steht in der Mandel?)
Psalm (Niemand knetet und wieder aus Erde und Lehm,)
Ilse Aichinger (1921 – 2016)
Sonntagvormittag (Gott zu lieben,/ihn anzubeten)
Ernst Jandl (1925 - 2000) an gott (dass an gott geglaubt einstens er habe)
Reiner Kunze (* 1933)
Zuflucht noch hinter der Zuflucht (für Peter Huchel)
(Hier tritt ungebeten nur der wind durchs tor)
Thomas Brasch (1945 – 2001)
Als Gott den Menschen schuf
Christa Wisskirchen (* 1945)
Gott, homöopathisch (Kleines Denkspiel: das mit den 3x3 Punkten)
*
Erich Adler © (* 1944)
Auferstehung
Am offenen Grab meines Onkels
Gebet des Priesters und Segen während
grün über uns in der Birke
eine Amsel
fern jeder Melancholie
ihr Lied ins Grab fallen lässt
- zur Ehre des Toten gekleidet - auf
die Rosentropfen
hinab.
Erich Adler ©
Tiefer als der Brunnen des Demokrit
Kein Jahr folgt dem andern
wie der Lemming
über die Klippen ins Meer
Jeder Tag stürzt dich aufs Neue
- ein Fischlein -
in Gottes Tiefe
jede Stunde im Malstrom geatmet
treibt dich
als Teilchen
empor.
Erich Adler © (* 1944)
Leises Ergebnis
Schlag um Schlag
meine kleine Welt
geklippt
und Stück um Stück
das Seelenlaminat aneinander
geklopft
so lange bis jede Fuge sich
über der Dämmung
spurlos
in Gott
verliert.
*
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