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  Lesen schadet den Augen

 

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       Rhetorische Figuren im Gedicht Reiner Kunzes

                         (am Beispiel von „Zimmerlautstärke“, Frankfurt 1972 )

 

                                                   A    -  Bilder

 

        I  Metapher = Übertragung 

                   bzw. Verschmelzung von Wort-/ Sinnbereichen  

    a) neuartig   

    finsternis, die sie/ vor sich herschoben (28, 11-12)

    Der blick durchforstet das gebüsch  (29, 3)

    Der mond eine/ gebogene nadel eine/ chirurgische nähnadel (31, 1-3)

    Der brief (…) dessen briefmarken/ aufblühn (37, 2-4)

    (Mikroben unterm mikroskop) // erreger mensch (49, 5-6)

    den wald hinter sich schließen, die tür/ voller gesang (50, 1-2) 

    die mohnblume wirft ihr kleid ab (54, 2)

    Vom dach (…) schrillt (…) der regenstrahl (62, 6-9)

     

    b) verblasst    

    (Aus wolken und wäldern die) / aus den nähten platzen (28, 4-5)

      Das Neuartige resultiert hier aus der Verwendung der geläufigen Metapher in unerwartetem  Bildkontext.

 

    c) Synästhesie (Sinnesverschmelzung)

    Die redner reden/ das rot von den fahnen (47, 1-2) s.a. IV b

 

    d) Personifikation (Körpereigenschaften zusprechend) u.a. Allegorie

    In strümpfen die/ blühen über den schenkeln (17, 2 – 3)

    Gegen abend/ schlug der hagel zu (30, 8-9)

    Im zimmer kreischt die straßenbahn (39, 1)

    (…) Seine antwort wächst/ grün durch alle fenster  (62, 15-16))

 

      II. Wortersetzung (Metonymie)

    a) Synekdoche (pars pro toto)

          Sagt/ der mann im radio (38, 3-4)

     

    b) Hypalage (Satzteilvertauschung)

       ( . . .hennen) / Picken sie vom schreibtisch mir// das wurmige  (53, 13-14)

 

        III.  Bilder:

    a) einfache Bildstruktur     

    in den achselhöhlen/ wälder mit elchen und wölfen (32, 1-2)

      

    b) (Wie-) Vergleich  oder gekürzt  s. Metapher

    die kornblumen standen/ wie preußen im feld  (30, 1-2)

    Als seien ihre worte/ hufnägel (31, 6-7)

    Vögel, postillione (37, 1)

    Die mohnblume (…) wie eine schwangere (54, 2-3)

    Wir (…) wie die Dinge aus Ton (27, 5)

 

    c)  Symbol (Erkennungszeichen)  

         Sieben Jahre warten (45, 15-17)

     

    d) Emblem (Sinnbild)

          das gesprungene böhmische glas (33, 10)  s . III c

     

    e) Chiffre ( = Geheimzeichen)

    Die wegwarte (…) kränkelt ergraut im glas (30, 3-5)

    Die wegwarte schließt sich und ergraut (54, 6-7)

    das blaue Komma (61, 5)

    

    f) Montage (Wort-/ Satzmischung bereits vorliegender Kontexte  zu neuer Aussage)

    Aber ich klebe meine hälften zu-/ sammen wie ein zerschlagener topf/ aus ton.

    (Brief-Zitat führt zu Gedichttitel und  Verszeilen  „wie die dinge aus ton“  (27, 5; 10; 13)

 

 

      IV. Topos : literarisch festgelegtes Ausdrucksschema

                                 (z.B. locus amoenus: Baum, Bach, Vogel,  Grasplatz)

    Die geläufige neutl. Himmelfahrt-Szene  der Apostelgeschichte (Apg 1, 9) „ . . . wurde er vor ihren

    Augen emporgehoben, und eine Wolke nahm ihn auf“ wird in Reiner Kunzes „Pfarrgarten“

    allenfalls  angedeutet und bekommt eine liebevoll humoristische Befreiung aus dem

    christlichen Vorstellungsschema. Der Blick nach oben folgt dem himmlischen Wegweiser,

    der ‚Orientierungshilfe’ des Grills, den der Pfarrer  für die Jugendlichen in seinem Garten aufgestellt

     hat. Das moderne ‚Brandopfer’ lenkt die Blickrichtung:

          Christus fährt nicht gen himmel / im rauch der rostbratwürste (18,1)

 

            B  - Figuren

            I Wortfiguren

    a) Emphase (inhaltliche Gewichtung durch nachdrückliche Wiederholung)   

      kere – bitten/ kerekere – betteln  (…) marschmarsch (16, 6-9)  

         

    b) Hyperbel (Übertreibung)     - - -

 

    c) Litotes    (Untertreibung, Verschleierung des Gemeinten)

      Der dichter/ beruhigend tot (55, 5-6)

       

    d) Periphrase (Umschreibung: verhüllend, artistisch, beschönigend  usw.)

       Einen morgen/ auf sein gewissen nehmen (35, 13-14

       (die welt ist offen/(…) // Horizont aus schlagbäumen (19, 4)

 

                    II.  Satzbau-Figuren

    a) Wortkombination (unverbunden – viel verbunden) , z.B. Asyndeton, Polysyndeton

       (Un- bzw.Vielverbundenheit)

    Der mond eine / gebogene nadel eine/ chirurgische nähnadel (…) (31, 1.3)

    Ich spiele es das/ dreipedalige Klavier ihn den/ dreitonnenflügel sie die/ sechsregistrige orgel  (43, 1-4)

     

    b) Wortstreichung wie  Zeugma  (ein Verb führt zwei Substantive im „Joch“)  –  Ellipse

    (Raffung des Wichtigen) – Aposiopese (Verschweigen von Wichtigem)

             (zwölf jahre/ (…) nicht publizieren(…) // Ich denke an  X   (38, 2-5)

 

    c) Worthäufung : Akkumulation: Reihung  - Variation - Stufung (Klimax)

                         Kere – bitten/ kerekere – betteln (16, 1-2)

 

    d)   Wortstellung:  Parallelismus – Chiasmus – Satzbruch: Anakoluth – falsche Reihung:

                   hysteron  proteron   –  Umstellung : Inversion

                   So (…) mußte er stehn/ in der Mitte des Schulhofs (15, 6-10

                                            s. a. IV a. Parallelismus   

 

          III.  Gedanken- Figuren

    a) Evokation (Anrufen)

      Schlaf du kommst nicht ( 42,1)

     

    b) (rhetorische) Frage:  

      Was das sei, tochter? (11, 1)

      Kernbeißer (…)// Treibt dich der frost her? (25, 1-3)

     

    c) Antithese (Entgegenstellung)    

    Vergangenheit, tochter // Sie zu kennen kann/ die zukunft kosten (13, 4-6)

    (die welt ist offen/(…) // Horizont aus schlagbäumen (19, 4)

 

     d)  Paradoxon/Oxymoron (Widersprüchlichkeit) / Groteske / Katachrese (Stilblüte) 

    Vergangenheit(…)// Sie zu kennen kann/ die zukunft kosten (13, 4-6)

    Horizont aus schlagbäumen (19, 4)

    (…) rechne ich unablässig// das unberechenbare (20, 8-9)

    Die letzte aller türen// Doch nie hat man alle alle schon geklopft (21 1-3)

 

    e)  (gedankliches) Wortspiel

    Was ich verwahre hinter schloß und siegel? (13, 1)

    ein bild/ von der welt sich zu machen es lebe/ das weltbild (19, 7-9)

    (…) wir haben/ den längeren arm// Dabei ging es/ um den kopf (40, 2-4)

     Er ging // Die Zeitungen meldeten/ keinen verlust (56, 5-6)

 

                                IV . Klang -  Figuren

 

    a) Anapher (Anfangs-)/ Epipher (End-)/ Kyklos (Kreis-) / Polyptoton (Viel-)  Wortwiederholung

         

    Wir wollten sein wie die dinge aus ton (…) (27, 5- 19)

    Wir wollten sein wie die dinge aus ton (…)

    Wir wollten sein wie die dinge aus ton (…)

    Wir werden sein wie die scherben/ der dinge aus ton 

                    (zugleich auch: Parallelismus)

     

    b) Reim: (Kreuzreim)   Wolf Biermann singt   (39)

           straßenbahn/  platte/ aufnahm/ hatte

     

    c) (klangliches) Wortspiel  wie  figura  etymologica  (Verb- und Substantiv - Gleichklang)

    Ich spiele, leicht/ blaß (nicht/ leichenblaß frau (…) (43, 7-9)

    Das Leben leer (44, 8)

    Die redner reden (47, 1)

                                                                                       

    d )  Onomatopoesie (Lautmalerei)

    Mikroben unterm mikroskop  (49, 6)  s.a. IV

                     ***

    Stilfiguren in moderner Lyrik am Beispiel des Gedichtbandes von Reiner Kunze

                 „Zimmerlautstärke“. Fischer Verlag 1972                                                                                     

    Das individuelle Handwerkszeug lässt sich an jedem Lyriker aufzeigen; rhetorische

    Figuren sind eben auch bei einem modernen Autor belegbar. Der Autor hat meinen

    Versuch  akzeptiert, seine Gedichte hier nach so rein formalen Stilmitteln zu überprüfen

    und sah keine Gefahr, als Autor poetisch „ausgeleuchtet“ zu werden. Reiner Kunze, dem

    ich an dieser Stelle ganz herzlich danke, gestattet mir die Veröffentlichung

    meiner textanalytischen Bemühung mit dem Hinweis: 

    „Es sollte nur nicht der Eindruck entstehen, der Autor habe ebenso analytisch

     gedacht. Solange Ihre Analyse als  I h r e  erkennbar ist und dem Autor nichts

    unterstellt wird, bin ich für jeden gescheiten Gedanken dankbar.“  (Reiner Kunze  - 11. 02. 08)

                                                                                          

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