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Hier lebe ich manchmal - am Rand der Gesellschaft, hänge meine Stallaterne raus für Pegasus, lass Hemd und Höschen
flattern , aber nirgendwo hat man seine Ruhe, immer gibt es ein Jubiläum, an dem man vorleiern soll!
(Merke: Lyrik - gr. lyra = die Leier)
Friedrich Wilhelm A. Schmidt (1764 - 1838)
( auch: Schmidt von Werneuchen)
Abschied von Berlin
Dein Herz, o Freundinn! scheint mich zu bedauern,
Daß Langeweil’ und Missmut mich belauern,
Wann ich der Stadt, die dir so süß behagt,
Auf ewig gern das Lebewohl gesagt.
Meinst Du im Ernst: ich muß von Felsenmassen
Mir in der Stadt ein Prunkhaus thürmen lassen,
Zu nutzen froh das Bißchen Lebensfrist,
Bis für den Sarg auch mich der Tischler mißt? -
Komm her zu uns, wenn Winterstürme tosen,
Komm her im Lenz, komm um die Zeit der Rosen,
Komm, wenn der Herbst die Feldgewebe spinnt,
Und sieh, wie froh wir hier im Flecken sind.
Ja, gute Frau! die Stadt ist mir ein Kerker;
Nie tausch' ich drum der Hütte kleinen Erker,
Das Gärtchen nie mit bogigtem Stacket,
Wo schwesterlich Ebresch' und Linde steht.
Nie tausch' ich drum mein Lusthaus, unterm Schatten
Des Austbirnbaums, der Lehmwand Rebenlatten,
Mein Bienenhaus voll gelber Körbe, nie
Mein Beet, geschmückt mit Boll’ und Sellerie.
Obgleich der Schnee itzt flockt in Gass' und Höfen,
Und nie der Torf verglimmt in unsern Oefen,
Den Hagelschlag der Sturm ans Fenster prellt,
Daß mancher Windklotz von den Dächern fällt.
So schwör' ich dir: der Strahl der Wintersonne
Durch Fenster-Eis, der Kinder Weihnachtswonne,
Ein bied'rer Freund, der zwar geschliffen nicht,
Wie Herr'n vom Ton, doch ganz von Herzen spricht
Ein weises Buch, ernst in die Hand genommen,
Die Hoffnung: ach? bald wird der Frühling kommen!
Die Reiser selbst im dörflichen Kamin,
Die, angefacht vom Blasebalge, glühn.
Ein Weib, das Abends plaudernd mit dem Kinde,
Ihr Spinnrad rollt mit blanker Rockenbinde:
Das alles schon ist Wohlthat für mein Herz,
Und macht den Druck des Winters mir zum Scherz.
Doch schlüpfen erst aus tiefgespalt'nen Kerben
Des Apfelbaums die Abendvögel, färben
Sich erst des Flieders Blüthen violett
Und duftet Lak auf meinem Fensterbrett;
Werd' ich erst selbst in meinem Gartenparke
Geschäftig seyn, mit Schaufel, Schnur' und Harke,
Mit mir mein Weib, von Lenzluft so gesund
Mein einzig Kind, so drall, so roth und rund;
Dann will ich gern mein Häuschen drum verwetten:
Du giebst - ich kenne Dich l - für meinen netten
Aurikelnflor, Lilj' und Rosenstock,
Gern deinen Spieltisch hin mit Rock und Block1.
Dannn komme her, wer dieses Herz verwandeln
Zu können wähnt, mein Glück mir abzuhandeln;
O! großen Dank! für Haufen blank und baar,
Bekommt er's nicht, sey König oder Zaarl
Georg Heym ( 1887 - 1912)
Dorf
Aus hohen Fenstern tönt die Orgel fort
Im kleinen Friedhof, wo der Pfarrer steht,
Und mit der Hand der Blumen Blätter dreht
Nach Würmern, und nach welkem Blatt, das dorrt.
Die Straße liegt im Abendlichte leer.
Die Häuser alle stumm. Doch gelblich schwimmt
Schon der Kastanien Laub, und unbestimmt
Mit Braun und Rot in Herbstes Wiederkehr.
Der Felder Ausschnitt liegt am Ende weit.
Sie dunkeln schon, wo fern der Wald beginnt.
Des blasse Grenze in der Luft verrinnt.
So blass schon, wie in trüber Winterzeit.
Die Orgel schweigt. Der Kirche Turmhahn kehrt
Sich glänzend um. Der Sonnenblumen Haupt
Glüht an der Kirchhofsmauer, gelb belaubt.
Das sich vom kühlen Staub der Gräber nährt.
Johannes Trojan (1837 – 1915)
Berliner Luftballon-Poesie
Das wahre Glück
Wie schwebts im purpurnen Gewölke
Des Abends sich so wunderschön,
Wo nichts von Hassselmann und Tölke,
Von Hasenclever nichts zu sehn.
Hier ist es still! In diesen Höhen
Herrscht volle Ruhe früh und spät.
Man sieht den Orgeldreher drehen,
Jedoch man hört nicht, was er dreht.
Hier kann man ungestört sich laben,
Sich ruhig freun an der Natur,
Denn niemals wird hier umgegraben,
Nie umgepflastert der Azur.
Hier mehr noch als am Markt der Molken,
Herrscht Sicherheit zu jeder Frist.
Kein Strolch streicht durch die Abendwolken,
Wenn man nicht selber Einer ist.
Tief unten liegt die Metropole –
Wie scheint sie klein – im Abendlicht.
Man sieht von Osdorfs Rieselkohle
Die Köpfe, doch man riecht sie nicht.
Zu hausen in der Weltstadt Klüften
Und Kellern – trauriges Geschick!
Die Freiheit wohnt nur in den Lüften
Und in der Gondel nur das Glück!
*
Johannes Trojan (1837 – 1915)
Maienlust bei Berlin
Wie blüht im Glanz der Maien
So lieblich Baum und Strauch!
Jetzt Schläft der Strolch im Freien,
Umduftet vom Blüthenhauch.
Es schlagen so liebesehnlich
Die Vöglein überall.
Man rechnet drei Strolche gewöhnlich
Auf eine Nachtigall.
Über die Brücke von Halensee,
„Pankow, Pankow, Pankow, Kille, Kille“, „Rixdorfer“, „Schunkelwalzer“, „Holzauktion“
1 Kremser (nach dem Berliner Fuhrunternehmer) offener Wagen mit Verdeck 2 Hundequäle = Berliner Grunewald -
Lokal Hundekehle
3 Kuschel = niedrige Kiefer, Gebüsch 4 erweitere Textfassung unter dem Titel „Berliner Himmelfahrtstag“
Joachim Ringelnatz (1883 – 1934)
Kanäle in Berlin
Beleuchtete Zimmer und Säle
Locken mit lautem und hellem Spiel.
Aber die dunkle Politur der Kanäle
Verschweigt so viel.
Uferlängs gehen unsichtbar -
Stoßweise zwei Stimmen.
Sonderbar! Wie in Gefahr?
Oder als ob sie schwimmen.
Eine klang wie ein Kind. –
Ich bin links eingebogen.
Dort, wo die hellen Häuser sind,
Hab ich traurig mich belogen.
*
Joachim Ringelnatz (1883 – 1943)
Müde in Berlin
Wenn die Gedanken sich zerstreut
Aus dir entfernen,
So, dass kein schönes Bein dich freut,
Und ein trübe Feuchtigkeit
Hängt über dir, unter den Sternen, -
Wo willst du hin um solche Zeit?
Schön ist zum Beispiel die Peltzer-Bar.
Aber müde Menschen sind undankbar.
Geh heim und lege dich zur Ruh.
Du findest doch die Worte nicht,
Wenn jemand freundlich zu dir spricht.
Denn du bist du
Und kannst dir selber nicht entfliehn.
Leg dich in deine Hände.
Dann schäumt das schillernde Berlin
Um deine ernsten Wände. - -
Dein Schiff wird in die Ferne ziehn.
*
Oskar Loerke (1884 – 1941)
Blauer Abend in Berlin
Der Himmel fließt in steinernen Kanälen;
Denn zu Kanälen steilrecht ausgehauen
Sind alle Straßen, voll vom Himmelblauen;
Und Kuppeln gleichen Bojen, Schlote Pfählen
Im Wasser. Schwarze Essendämpfe schwelen
Und sind wie Wasserpflanzen anzuschauen.
Die Leben, die sich ganz am Grunde stauen,
Beginnen sacht vom Himmel zu erzählen,
Gemengt, entwirrt nach blauen Melodien.
Wie eines Wassers Bodensatz und Tand
Regt sie des Wassers Wille und Verstand
Im Dünen, Kommen, Gehen, Gleiten, Ziehen.
Die Menschen sind wie grober, bunter Sand
Im linden Spiel der großen Wellenhand.
*
Paul Boldt (1885 - 1918/19?)
Berlin
Die Stimmen der Autos wie Jägersignale
Die Täler der Straße bewaldend ziehn.
Schüsse von Licht. Mit einem Male
Brennen die Himmel auf Berlin.
Die Spree, ein Antlitz wie der Tag,
Das glänzend meerwärts späht nach Rettern,
Behält der wilden Stadt Geschmack,
Auf der die Züge krächzend klettern.
Die blaue Nacht fließt in den Forst,
Sie fühlt, geblendet, dass du lebst.
Schnellzüge steigen aus dem Horst!
Der weiße Abend, den du webst,
Fühlt, blüht, verblättert in das All.
Ein Menschen-Hände Fangen treibst du
Um den verklungnen Erdenball
Wie hartes Licht; und also bleibst du.
Wer weiß, in welche Welten dein
Erstarktes Sternenauge schien,
Stahlmasterblühte Stadt aus Stein,
Der Erde weiße Blume, Berlin.
Paul Boldt (1885 - 1918/19?)
Auf der Terrasse des Café Josty
Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll
Vergletschert alle hallenden Lawinen
Der Straßentrakte: Trams auf Eisenschienen,
Automobile und den Menschenmüll.
Die Menschen rinnen über den Asphalt,
Ameisenemsig, wie Eidechsen flink.
Stirne und Hände, von Gedanken blink,
Schwimmen wie Sonnenlicht durch dunklen Wald.
Nachtregen hüllt den Platz in eine Höhle,
Wo Fledermäuse, weiß, mit Flügeln schlagen
Und lila Quallen liegen - bunte Öle;
Die mehren sich, zerschnitten von den Wagen. -
Aufspritzt Berlin, des Tages glitzernd Nest,
Vom Rauch der Nacht wie Eiter einer Pest.
Georg Heym (1887 – 1912)
Berlin
I
Beteerte Fässer rollten von den Schwellen
Der dunklen Speicher auf die hohen Kähne.
Die Schlepper zogen an. Des Rauches Mähne
Hing rußig nieder auf die öligen Wellen.
Zwei Dampfer kamen mit Musikkapellen.
Den Schornstein kappten sie am Brückenbogen.
Rauch, Ruß, Gestank lag auf den schmutzigen Wogen
Der Gerbereien mit den braunen Fellen.
In allen Brücken, drunter uns die Zille
Hindurchgebracht, ertönten die Signale
Gleichwie in Trommeln wachsend in der Stille.
Wir ließen los und trieben im Kanale
An Gärten langsam hin. In dem Idylle
Sahn wir der Riesenschlote Nachtfanale.
II
Der hohe Straßenrand, auf dem wir lagen,
War weiß von Staub. Wir sahen in der Enge
Unzählig: Menschenströme und Gedränge,
Und sahn die Weltstadt fern im Abend ragen.
Die vollen Kremser fuhren durch die Menge.
Papierne Fähnchen waren drangeschlagen.
Die Omnibusse, voll Verdeck und Wagen.
Automobile, Rauch und Hupenklänge.
Dem Riesensteinmeer zu. Doch westlich sahn
Wir an der langen Straße Baum an Baum,
Der blätterlosen Kronen Filigran.
Der Sonnenball hing groß am Himmelssaum.
Und rote Strahlen schoß des Abends Bahn.
Auf allen Köpfen lag des Lichtes Traum.
III
Schornsteine stehn in großem Zwischenraum
Im Wintertag und tragen seine Last,
Des schwarzen Himmels dunkelnden Palast.
Wie goldne Stufe brennt sein niedrer Saum.
Fern zwischen kahlen Bäumen, manchem Haus,
Zäunen und Schuppen, wo die Weltstadt ebbt,
Und auf vereisten Schienen mühsam schleppt
Ein langer Güterzug sich schwer hinaus.
Ein Armenkirchhof ragt, schwarz, Stein an Stein,
Die Toten schaun den roten Untergang
Aus ihrem Loch. Er schmeckt wie starker Wein.
Sie sitzen strickend an der Wand entlang,
Mützen aus Ruß dem nackten Schläfenbein,
Zur Marseillaise, dem alten Sturmgesang.
*
Vorortbahnhof (Berlin VI) Georg Heym s. Motiv Abend
Alfred Lichtenstein (1889 – 1914)
Gesänge an Berlin
O du Berlin, du bunter Stein, du Biest.
Du wirfst mich mit Laternen wie mit Kletten.
Ach, wenn man nachts durch deine Lichter fließt
Den Weibern nach, den seidenen, den fetten.
So taumelnd wird man von den Augenspielen.
Den Himmel süßt der kleine Mondbonbon.
Wenn schon die Tage auf die Türme fielen
Glüht noch der Kopf, ein roter Lampion.
Bald muß ich dich verlassen, mein Berlin
Muß wieder in die öden Städte ziehn.
Bald werde ich auf fernen Hügeln sitzen.
In dicke Wälder deinen Namen ritzen.
Leb wohl, Berlin, mit deinen frechen Feuern.
Lebt wohl, ihr Straßen voll von Abenteuern.
Wer hat wie ich von eurem Schmerz gewußt.
Kaschemmen, ihr, ich drück euch an die Brust.
In Wiesen und in frommen Winden mögen
Friedliche heitre Menschen selig gleiten.
Wir aber, morsch und längst vergiftet, lögen
Uns selbst was vor beim In-die-Himmel-Schreiten.
In fremden Städten treib ich ohne Ruder.
Hohl sind die fremden Tage und wie Kreide.
Du, mein Berlin, du Opiumrausch, du Luder.
Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.
Hörtipp Lichtenstein
Ich hebe meine Augen in die Welt (Lichtenstein - CD) www.words-and-music.de
Die CD „Ich hebe meine Augen in die Welt“ (hörbuch edition words & music - 2007 ) mit schön und exzellent gestaltetem Cover und Booklet wird helfen, die in der Internet-Lyrikszene seit Jahren beobachtbare Wiederentdeckung des Frühexpressionisten Alfred Lichtenstein (1989 – 1914) auf eigenständige, auch musikalische Weise zu kommentieren.
Die in fünf Kapitel aufgeteilte Textauswahl der grotesk witzigen, zeitkritischen und epochetypischen Gedichte wie auch des satirischen Prosatextes „Cafe Klößchen“ – durch Barbara Wittmann und Detlef Bierstedt präzise, engagiert texterhellend und ohne Sprechereitelkeiten gelesen - vermittelt einen guten Einstieg für Neulinge des lange vernachlässigten Literaten und macht auch dem Kenner Freude; das liegt neben den Texten zudem an der musikalischen Gestaltung durch Piano (Aki Takase) und Percussion (Michael Griener). Sparsam eingesetzt kommentieren die aus der modernen Jazzszene bekannten Musiker die „Ausdruckskunst“ des Literaten, ohne Gefahr zu laufen, die Gedichte zum musikalischen Projekt herabzustufen.
Fazit: Hörgenuss pur – und kein „Trüber Abend“ mit Alfred Lichtenstein .
Alfred Lichtenstein (1889 – 1914)
Nächtliches Abenteuer
Ging da neulich über den Potsdamer Platz
Um 1 Uhr nachts ein allerliebster Fratz.
Ich sprach die Kleine an mit frecher Stirne:
„ 3 Mark mein Schatz?“
Sagte, sie sei empört
Und finde so etwas unerhört,
Und sagte, sie sei keine Dirne
Und es sei ihr etwas wert, ihr Name,
Und sie sei eine anständige Dame
Und sie gäbe sich nicht für 3 Mark her
Und sie nähme mehr.
*
Ernst Wilhelm Lotz (1890 – 1914)
Die Nächte explodieren in den Städten...
Die Nächte explodieren in den Städten,
Wir sind zerfetzt vom wilden, heißen Licht,
Und unsre Nerven flattern, irre Fäden,
Im Pflasterwind, der aus den Rädern bricht.
In Kaffeehäusern brannten jähe Stimmen
Auf unsre Stirn und heizten jung das Blut.
Wir flammten schon. Und suchen leise zu verglimmen,
Weil wir noch furchtsam sind vor eigner Glut.
Wir schweben müßig durch die Tageszeiten,
An hellen Ecken sprechen wir die Mädchen an.
Wir fühlen noch zu viel die greisen Köstlichkeiten
Der Liebe, die man leicht bezahlen kann.
Wir haben uns dem Tage übergeben
Und treiben arglos spielend vor dem Wind,
Wir sind sehr sicher, dorthin zu entschweben,
Wo man uns braucht, wenn wir geworden sind.
Ernst Blass (1890 - 1939)
Kreuzberg I
Blaßmond hat Hall und Dinge grau geschminkt.
Das Wundern lernte selbst der karge Greis,
Der unten, auf der Bank, im engsten Kreis
Vor sich den mageren Spazierstock schwingt.
Da liegt die große Stadt: schwer, grau und weiß.
Ein Rauchen, Greifen, Atmen, daß es stinkt.
Eh sie dem heil’gen Tag das Dunkel wild entringt,
Erwachen Nerventräume, blaß und heiß.
Fort mit dem süßen Blick! Fort mit dem Kusse!
Hörst du die roten Nacht- und Not-Alarme?
Die heißen blassen Träume sind verstreut.
Mir stehen riesige liebes-, hasseswarme
Gebäude zu durchwandern weit bereit.
Da unten rollen meine Autobusse!
Ernst Blass (1890 - 1939)
Autofahrt
... rast weiter über menschenlosen Platz,
Gelb, keuchend, zwischen Träumen und Erwachen,
Rings Nebel, die Gebüsche blinder machen,
Das Auto dreht ... in einem Satz.
Ich liege nur, mein Herz ward ausgerenkt,
Bin ich hier nicht am Brandenburger Tor?
Rechts steigt der Himmel dunstig schief empor,
Wo klein der Mond, ein weißer Tropfen, hängt.
Eva Zeller (* 1923)
Berlin
Wachhund
auf Flüchtlinge abgerichtet
zerfleischt Grenzposten
Freiheit
an die große Glocke gehängt
und wissen
was sie geschlagen hat
Amseln polstern ihr Nest
in der Mauer
mit gelassenen Federn
Alte Frauen
reißen die Tage
von der perforierten Zeit
um sie sich
hinter den Spiegel zu stecken
Eine Stadt
läßt sich die Haare wachsen
und tanzt auf ihren Altären
Sie ist so frei
aus: Eva Zeller, Sage und schreibe. Gedichte. DVA Stuttgart 1971, S. 33
Der Autorin herzlichen Dank für ihre freundliche Erlaubnis vom 26. 08. 2011, ihr Gedicht publizieren zu dürfen.
Günter Kunert (1929 - 2019)
Berlin morgens zwei Uhr
Die Läden da unten leuchten, als wollten
sie den Toten den Weg erleichtern.
Die Stadtbewohner mumifizieren sacht
vor sich hin. Die Autos schlafen
traumlos, Es scheint, als gäbe es
schon jetzt kein Erwachen mehr.
Was sich hinter diesem oder jenem
Fenster regt, inszeniert
unsere Fantasie. Zu dieser Stunde
verlangsamt sich der Herzschlag
der Metropole und der deine dazu.
Matter Widerschein an der
Zimmerdecke. Wer nicht ganz
von dieser Welt ist, darf jetzt
Leben simulieren.
*
(aus: Günter Kunert, Als das Leben umsonst war, München 2009, S. 10, Carl Hanser Verlag)
Günter Kunert (1929 - 2019)
Berlin vor Zeiten
Abend für Abend
völlig gesichtslos. Auch sonst
nur Silhouette unmerklich
auftauchend und verschwindend
durch Selbstverständlichkeit. Wer
war das oder die
wie er gewesen? Beordert
mit hakenbewerter Stange
an einer Straßenlaterne
den Hebel zu ziehen und
an der nächsten und übernächsten
und weiter und ferner und immer
schattenzarter. Feierlich
glühte nach und nach
seinem lautlosen Schreiten
die Nacht grünlich auf
uns heimzuleuchten
nachdem wir da und dort wie er
fortgegangen sind.
*
(aus: Günter Kunert, Als das Leben umsonst war, München 2009, S. 11, Carl Hanser Verlag)
Dem Autor Günter Kunert ein sehr herzliches Dankeschön für seine rasche Antwort vom 12. 08. 2012
Marko Ferst ©
Der Park
Gelbe Krokusse
noch blühen sie
die Bäume
hat es schon erwischt
abgesägt, zerstückelt
man lädt sie gerade auf
jetzt blüht uns
eine neue Immobilie
das Geld schnappt zu
die Erdhaut
wird schon aufgerissen
Beton, Stahl und Glas
türmen sich empor
die Steinschlucht
die mal Friedrichstraße hieß
man sollte sie
Architekturungeheuer taufen
aber wer braucht denn
auch noch Parks, Bäume und Vögel
so was Altmodisches
wo wir doch bald
umzingelt sind
bis zum Abgesang
tönt Vögelzwitschern
aus Lautsprechern
und Bäume wachsen per Video
einfallslose Umweltschützer
dass die nicht
selber drauf kommen
Berlin, Bahnhof Friedrichstraße
aus: Marko Ferst, Umstellt. Sich umstellen. Gedichte, Leipzig - Berlin 2005
Marko Ferst ©
Blick auf den Seddinsee
Kormorane verätzen
ihre Brutbäume
über Wasserflächen
findet die Seele Tiefe
zuweilen lasse ich hier
meine Blicke schweifen
meditiere mit der großen Natur
die Wälder sprechen zu mir
manchmal betteln
Stockenten um Brotkrumen
Eisenpfähle mit Schildern
Berliner Gründlichkeit
verschandelt die Landschaft
Trauerseeschwalbenschutz
im Winter blendet
der Schnee auf dem Eis
im Sommer stört noch abends
motorisierter Bootslärm
und doch bleibt der Kontakt
zu Winden, Sternen
und Sonnenglitzer
aus: Juniland. Gedichte. Monika Jarju, Werner Pelzer, Hans-Jürger Gaiser u.v.a. Dorante Edition. literaturpodium Berlin
2007 (Marko Ferst herzlichen Dank für die Befreiung vom copyright - Coverfoto vom Hopfensee: Jördis Kummerländer).
Marko Ferst ©
Krumme Lake
Gefügt in Grün
und Wälderdickicht
schilfumringtes Wasser
am Ufer Birkenfrisch
Gelb am Boden
winzige Blüten
Vogelbeeren im Schatten
Farne sprießen auf Morast
ausgedehnte Erlenzüge
Graureiher versteckt
Mit Eulenschild
ist alles geschützt
baden gilt als illegal
im Minutentakt
schrammen Flugzeuge
tief über Wipfel
Räder ausgeklappt
willkommen im Vogelschutzgebiet!
Blech und Krach am Himmel
Schwimmer finden sich ein
bei Sommerglut
Buntes Braun kleidet
von September an
später der Frost
spiegelt mit der Eisglätte
die Sonne zurück
still dämmern alle Pfade
nur die Schwarzröcke
pflügen solange es geht
nur selten noch liegt Schnee
auf Kiefernkronen
das liegt nicht nur
am Fliegerwahn
Wulf Kirsten ( * 1934) Kurfürstendamm (Eisenzahnstraße, abgewinkelten arms.)
Sarah Kirsch (1935 - 2013) The Last of November (Erst in die Wechselstuben am Zoo)
Wolf Biermann ( * 1938) Berlin (Berlin, du deutsche deutsche Frau)
Empfehlenswerte Anthologie:
Berlin, mit deinen frechen Feuern. 100 Berlin-Gedichte. Hrsg. Michael Speier. Reclam jun. Stuttgart 1997
*
Erich Adler ©
Stille Hommage
Im Garten am Nachmittag
sitzend unter der Sonne
mit dem Buch lese ich
die Lebensgeschichte der Mascha Kaléko:
Mit ihrem Berlin im Gepäck auf der Suche nach Sprache
während über mir aus der Lärche
der heimische Klang einer Amsel heraus fällt
einen Moment taumelnd
über diese verbrannten
vertriebenen
Verse.
* * *
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