“... Lesen schadet den Augen! ”

 

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                                              Gedichtvergleich 

      Clemens Brentano: „Hörst du wie die Brunnen rauschen“ und

             Joseph von Eichendorff: „Zauberei der Nacht“

 

Aufgabenstellung:

1. Analysieren und interpretieren Sie nacheinander die beiden vorliegenden Gedichte!

2. Vergleichen  Sie die beiden Texte anschließend!

3. Zeigen Sie, warum es sinnvoll ist, dass sich Schüler und Schülerinnen des 21. Jahrhunderts.        mit literarischen Werken wie den Ihnen vorliegenden auseinandersetzen!                   

 

        Clemens Brentano (1778  - 1842)

        Hörst du, wie die Brunnen rauschen,

        Hörst du, wie die Grille zirpt?

        Stille, stille, laß uns lauschen,

        Selig, wer in Träumen stirbt.

        Selig, wen die Wolken wiegen,

        Wem der Mond ein Schlaflied singt!

        O, wie selig kann der fliegen,

        Dem der Traum den Flügel schwingt,

        Daß an blauer Himmelsdecke

        Sterne er wie Blumen pflückt:

        Schlafe, träume, flieg, ich wecke

        Bald Dich auf und bin beglückt.

 

 

        Joseph von Eichendorff (1788 – 1857)

        Zauberei  der Nacht

         

        Hörst du nicht die Quellen gehen

        Zwischen Stein und Blumen weit

        Nach den stillen Waldesseen,

        Wo die Marmorbilder stehen

        In der schönen Einsamkeit?

        Von der Bergen sacht hernieder,

        Weckend die uralten Lieder,

        Steigt die wunderbare Nacht,

        Und die Gründe glänzen wieder,

        Wie du’s oft im Traum gedacht.

         

        Kennst die Blume du, entsprossen

        In dem mondbeglänzten Grund?

        Aus der Knospe, halb erschlossen,

        Junge Glieder blühend sprossen,

        Weiße Arme, roter Mund,

        Und die Nachtigallen schlagen,

        Und rings hebt es an zu klagen,

        Ach, vor Liebe todeswund,

        Von versunknen schönen Tagen –

        Komm, o komm zum stillen Grund!

                                              *

    Das Gedicht aus “Julian” (1853) ist auch unter dem Titel „Nachtzauber“ erschienen.

 

              1.

In dem Gedicht „Hörst du wie die Brunnen rauschen“ von Clemens Brentano, der als Vertreter der Romantik gilt, kommt ein lyrisches Ich zu Wort, das, angeregt durch die Natur, einen traumartigen Zustand umschreibt, in dem der Einzelne transzendente Erfahrungen machen könne.

Nach meinem ersten Textverständnis spielen Jenseitsorientierung und die Entgrenzung des Ichs eine zentrale Rolle in der Aussage des Gedichts.

Es umfasst eine Strophe, die aus 12 Versen besteht. Das Versmaß ist ein vierhebiger Trochäus mit abwechselnd weiblicher und männlicher Kadenz am  Versende.

Der Titel des Gedichts wiederholt sich gleich im ersten Vers, welcher mit der zweiten eine enge Einheit bildet, was durch eine Anapher signalisiert wird; „Hörst du wie die Brunnen rauschen, / Hörst du wie die Grille zirpt?“ (V. 1-2). Das lyrische Ich nimmt die Natur, ihre Geräusche als beseelt wahr, gleich einer Stimme, die ihm etwas sagen wolle. Es fordert sein Gegenüber in direkter Anrede auf, gemeinsam mit ihm in „(S)tille (zu) lauschen“ (V 3).

In den folgenden Versen taucht erneut eine Anapher auf: Selig, wer in Träumen stirbt“ (V 4), heißt es zunächst. Hier wird sein neuer Zustand eingeleitet, Traum und Tod stehen für Transzendenz. Die Rede ist vom Schlaf und der Versuchung in sich selbst, der personifizierte „Mond, (der) ein Schlaflied singt“ (V. 6) unterstreicht dies. Der Traum „beflügele“ den Menschen, wie in einer weiteren Personifikation (vgl. V. 8) zum Ausdruck kommt, durch ihn erhebe sich der Einzelne bis zur „Himmelsdecke“ (V. 9), wo er „Sterne (…) wie Blumen pflückt“ (V. 10): Der Traum sei ein Medium, über welches der Mensch seine individuelle Existenz überschreiten und den Geheimnissen einer göttlichen Schöpfung nahe sein könne.  Die Natur versetze den  Menschen in diesen Zustand, bringe ihn in die Tiefen seines Selbst und wirke in diese Traumwelt hinein, was durch zahlreiche, z. T. personifizierte  Naturerscheinungen, wie z. B. „Wolken“ (V.5), „Mond“  (V. 6) und „Blumen“ (V. 10), verdeutlicht wird.  In einer Reihung von imperativen Verben schickt das lyrische Ich sein Gegenüber an, sich auf diese andere Welt einzulassen: „Schlafe, träume, flieg, ich wecke/ Bald dich auf und bin beglückt“ (V. 11 – 12).  Durch das Enjambement wird die Verbundenheit zwischen beiden, aber auch die zwischen Transzendenz und Diesseits gestützt. „(B)eglück(end)“ (V. 12) sei die gemeinsame Ahnung und Erfahrung von etwas Höherem, Jenseitigen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dem Wesen der Natur in dem Gedicht die besondere Funktion zugeschrieben wird, den Menschen dazu anzuleiten, sich in tiefere Bewusstseinsphären zu begeben, um auf diese Weise seine Wirklichkeit zeitweilig zu überwinden, Grenzen zu überschreiten und höhere Geheimnisse in Erfahrung zu bringen, welche sich dem Menschen wiederum durch die Natur im Diesseits andeuten. Dieses transzendente Streben kann für die Epoche e der Romantik als typisch angesehen werden. Brentanos Gedicht lässt sich somit inhaltlich dieser Epoche zuordnen. Auch das Formale stärkt diese Annahme. Die Sprache ist sehr bildhaft, die Struktur einfach, aber streng komponiert. Durch den Kreuzreim wirkt das Gedicht geschlossen, die fließend wechslenden Endreime entsprechen der Bewusstseinsentwicklung des lyrischen Ichs, 

                      2.

Joseph von Eichendorffs Gedicht „Zauberei der Nacht“ handelt von der Natur als Ort des Phantastischen sowie der Nacht als mystischer Stunde, in der Unterbewusstes und  Verborgenes zum Vorschein kommt. Bereits der Titel drückt das Magische aus, welches das lyrische Ich dem Leser bzw. einer dritten Person in seiner Darstellung vermittelt.

Das Gedicht setzt sich aus zwei Strophen zu jeweils zehn Versen zusammen, ein vierhebiger Trochäus bildet das Versmaß. Das Reimschema folgt dem Muster abaabccdcd. Zu Beginn wendet sich das lyrische Ich  direkt an sein Gegenüber, wist auf das Geräusch der personifizierten „Quellen“ (V. 1) hin, die den Weg in die Natur, zu den „stillen Waldes-Seen“ (V.3) zeigten, wo „schöne Einsamkeit“ (V.4) herrsche. Durch die Erwähnung der „Marmorbilder“ (V.4), die hier zu finden seien, erhält das Szenario etwas Heidnisches, Archaisches; im Werke Eichendorffs stehen diese Objekte oft in einem solchen Zusammenhang, Die „wunderbare Nacht“ (V. 4) , welche Einzug hält, “weck(t)“ die uralten Lieder“ (V. 7) und lässt „die Gründe glänzen“ (V. 9). Sie fördert also, wie sich in diesen Personifikationen ausdrückt, das Ursprüngliche zu Tage, vor welchem der Mensch nur „im Traum“ (V. 10) eine Ahnung habe.

Am Anfang der zweiten Strophe tritt als Symbol „die Blume“ (V. 11) auf, das lyrische Ich fragt sein Gegenüber, ob es diese kenne, sie sei „dem mondbeglänzten Grund“ (V. 12) entwachsen. In dieser Bezeichnung klingt erneut die mythische Wirkung der Nacht an, verbildlicht im Mondlicht. Sie steht in enger Verbindung mit dem „Grund“ (V.12), eine Art Ursprung; dieser könnte für längst Vergangenes, aber auch für unantastbare Tief ein einem metaphysischen Sinne stehen. Das Symbol der Blume, in der Regel auch als blau charakterisiert, steht in der Romantik gemeinhin für etwas Unerreichbares, meist Transzendentes, auf das sich die Sehnsucht des Künstlers oder generell des Menschen richtet, so etwa bei Novalis. Das lyrische Ich stellt im Folgenden die Entfaltung dieser Blume dar, es ist ein Mensch mit „j)unge(n) Gliedern(…)/ Weißen Arme(n) (und) rote(m) Mund“ (V. 14-15), der aus ihr hervorsteigt; die Wortwahl lässt den Eindruck entstehen, als sei es eine weibliche Gestalt, die hier symbolisch geboren wurde.  Treue, Verlust und starke Sehnsucht kommen in den folgenden Versen zum Tragen“; „vor Liebe todeswund,/ Von versunkenen, schönen Tagen.“(V. 17-18). Es ist das Sehnen nach Vergangenem, Unwiederbringlichem, das hier durch das lyrische Ich suggeriert wird; am Ende steht die Aufforderung, „zum stillen Grund“ (V.20) zu kommen. Somit erhält das Gedicht den Anschein einer Verlockung, die das lyrische Ich in den Bildern von Nacht und Natur ausspricht. Die „Marmorbilder“ (V.4), die (j)ungen Glieder“ (V. 14) und die „Liebe“ (V.18), welche „todeswund“ (V.18) mache, deuten auf eine heidnische Versuchung hin, wie sie in Eichendorffs Werk , so z.B. in seiner Novelle „Das Marmorbild“ sowie in einigen Gedichten, nicht selten auftritt; diese könne in den Tiefen der Naturerscheinungen lauern und entspreche Bildern des kollektiven Unbewussten, vor allem dem der Männer. Vieles sei „wie du’s oft im Traum gedacht.“(V.10). Doch lässt die Betonung des Ursprünglichen, der „Gründe“ (V. 9) und „uralten Lieder“ (V. 7) in dem Gedicht auch Assoziationen zu positiven, romantischen Vorstellungen zu, etwa den, dass über das Erleben der Natur und die emotionale Bindung auf Vollkommenheit sowie auf alte Märchen und Sagen eine Art „goldenes Zeitalter“, die ursprüngliche, bessere Welt zurückgeholt werden könne. Die erste Strophe, welche noch recht positiv konnotiert ist, würde ein solches Verständnis zulassen. Nicht zuletzt wegen des fehlenden religiösen Bezuges in dem Gedicht halte ich aber ersteres für wahrscheinlicher.

Zieht man Brentanos Gedicht „Hörst du wie die Brunnen rauschen“ vergleichend zu Rate, lässt sich zunächst beobachten, dass in beiden Texten die Natur, die Nacht bzw. der Schlaf und der Traum eine starke Bedeutung haben. Insbesondere zeigen beide Gedichte einen Zusammenhang zwischen der Natur und dem menschlichen Traum auf. Brentanos Gedicht zufolge müsse sich der  Mensch vom Einfluss und Wesen der Natur anregen lassen, in sich zu gehen und im Traum Bilder vorzufinden, die ihm den Weg zu höheren Erfahrungen und Seinsichten weisen würden. So könne er gewissermaßen ‚probeweise’ Transzendenz erfahren. „Selig, wer in Träumen stirbt“( V 4). Auch in  Eichendorffs Gedicht wird eine Verbindung von der Natur zu den Bildern des Traumes gezeichnet: Die „Quellen“ (V 1) führen in die „schöne(  ) Einsamkeit“ (V. 5). Die „Nacht“ (V. 8) lässt „die Gründe glänzen (…)/ Wie du’s  oft im Traum gedacht“ (V. 9- 10). Jedoch findet sich kein expliziter Hinweis auf das Göttliche wie in Brentanos Gedicht etwa die „blaue Himmelsdecke“ V. 9). Allenfalls ließe sich der „stille(  ) Grund“ (V. 20) als göttlicher Ursprung, die Schöpfung interpretieren. Heidnische Motive wie die „Marmorbilder“ (V. 4) stehen dieser Auffassung aber entgegen. Man kann letztlich davon ausgehen, dass die Anziehung durch  und das  „Sich-zurück-Wünschen“  in eine alte, bessere Zeit, „versunkene (  ) schöne (  ) Tage (  )“ (V. 19) gemeint ist. 

 Anm. (We): Oder Bilder des Inneren/ „Wünsche“ manifestieren sich in Bildern des Äußeren. Beachten Sie, dass romantische Gedicht häufig Rollengedichte innerhalb von Prosatexten sind.

Beide Gedichte  beginnen mit der Wendung „Hörst du“, die jeweils eine Frage einleitet. Während Brentanos Gedicht einen positiven Schlusspunkt findet, „ich wecke/ Bald dich auf und bin beglückt“ (V. 11), steht am Ende von Eichendorffs Gedicht Wehmut, die auch als Todessehnsucht verstanden werden könnte (oder Warnung vor dem Abgrund der Hölle; We). Weiterhin haben beide Gedichte einen vierhebigen Trochäus als Metrum. Brentanos Gedicht

Besteht aus nur einer Strophe sowie einem einfach gehaltenen Reimschema, wohingegen Eichendorffs zwei Strophen umfasst und ei wesentliche komplexeres Reimschema aufweist.

                3.

Die romantische Glaubensauffassung, die wie in Brentanos „Hörst du wie die Brunnen rauschen“ stark mit einem individuellen Erlebnis der  Natur einhergeht, ist in der heutigen säkularisierten und technisierten Welt überholt.

Doch das  bestreben der Romantiker, sich der Welt gefühlsmäßig zu nähern, kann in unserer Gegenwart zwar kein Ersatz, so aber immerhin einen notwendigen Gegenpol und Ausgleich zu einseitigem Rationalismus und Zweckmäßigkeitsdenken bilden.  Gefühl sollte die  Vernunft nicht ersetzen, jedoch ergänzen.        Diese Synthese versuchten die Romantiker zu erreichen und sie könnte auch in heutiger Zeit ein Ziel sein. Denn alles, was das Leben lebenswert mache, so Karl Popper, ein bedeutender Philosoph des vergangenen Jahrhunderts, habe mit Gefühl zu tun.

Brentanos und Eichendorffs Gedichte sind von großer Innerlichkeit gekennzeichnet.             Die Natur spiegelt lediglich seelische Empfindungen wider, ist an und für sich abstrakt.  Das Nachspüren eigener Gedanken  und Gefühle steht im Mittelpunkt und  ist Voraussetzung für all die Bilder, welche sich hieraus erheben. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Inneren sollte zum Leben ein3es Menschen dazugehören, wird in heutiger Zeit jedoch vielfach von scheinbaren Sachzwängen, nach denen sich das individuelle Handeln oftmals richtet, und einer allgemeinen Orientierung an äußeren Formen ersetzt. Hier kann die Anschauung der Romantik den Weg zurück in die richtige Richtung weisen.

                             Daniel Hinrichsmeyer  ©  -   Lk 2009 (We)

                                           Klausur unter Abiturbedingungen (300 ’)

Kommentar:

Ihre textsensible Gedichtanalyse unter Nr. 1 ist insgesamt überzeugend!

In sprachlich sehr ansprechender Form ist es Ihnen gelungen, genau am Text zu arbeiten und knapp Kenntnisse bezüglich der Epoche zur Vertiefung Ihrer Ausführungen einfließen zu lassen.

Auch unter Nr. 2 bieten Sie, wenn auch in kurzer Form, Wesentliches bezüglich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden lyrischen Kunstwerke.

Unter Nr. 3 setzen Sie sehr gut an. Hier fehlen jetzt allerdings detaillierter Ausführungen zu einzelnen Werken und Themen.

                                                            15 Punkte  (Wiese)

 

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