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  Lesen schadet den Augen

 

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                                       Literatur nach ’ 45 ( „Stunde Null“)

 

        1. Interpretation und Gedichtvergleich

        Elisabeth Langgässer „Frühling 1946“ 

        Horst Bingel „Fragegedicht (Wir suchen Hitler)“

        2.

        Erörterung, wie die Texte als Beiträge der literarischen Nachkriegssituation zu beurteilen sind

Elilsabeth Langgässer mit ihrem Gedicht „Frühling 1946“ und  Horst Bingel mit dem „Fragegedicht Wir suchen Hitler)“ belegen die Vieldeutigkeit der Literatur nach 1945. Beide Autoren setzen sich mit der Thematik des zweiten Weltkrieges auseinander, beide versuchen auf recht unterschiedliche Weise zur Vergangenheitsbewältigung beizutragen.

 

Langgässer lässt das lyrische Ich seine Rückkehr zu den Lebenden beschreiben. Dabei hält sich die Autorin  an eine strenge Form. Das Gedicht liegt in sechs Strophen vor. Jede Strophe besteht aus fünf Zeilen. Das Reimschema ist           a – b – a-  a-  b und wird durchgängig benutzt. Dabei finden sich vor allem männliche Reime, d.h. eine reimende Silbe (z.B. „Licht“ – „Gewicht“) liegt vor.  Die meisten Reime sind eindeutig und klar. Lediglich ein unreiner Reim findet sich („Küssen“ – „Flüssen“ – „wissen“ in Z 24).

Das Metrum  ist trochäisch (/ u ). Auch dieses Versmaß ist streng geordnet. So besteht jeweils die erste Zeile einer Strophe aus einem 3-hebigen Trochäus, die zweite aus einem 3-hebigen mit fehlender Senkung (= männlicher Versausgang), die dritte aus einem 4-hebigen (dabei macht die letzte Strophe eine Ausnahme: nur  3-hebiger Trochäus), die vierte Zeile ebenfalls aus einem 4-hebigen Trochäus (wiederum nur erste bis fünfte Strophe, letzte 3-hebig) und die letzte Zeile ist aufgebaut wie die zweite.

Der Rhythmus wird von dieser Besonderheit stark beeinflusst. So ist er durch das strenge Metrum einerseits sehr gleichmäßig, auf der anderen Seite wirkt er durch die kurzen Verse rasch und bestimmt. Die zahlreiche Enjambements        (Z 21-22 „Küssen lass mich dein Gesicht“, Z 23-24 „…von den Flüssen Styx und Lethe“) tragen ebenso wie die Ausrufe (Z 8 „Ach“, Z. 21 „Anemone!“) und Fragen (Z 5 „wie Nausikaa?“, Z 10 „…endlich sein Gewicht?“) zur Verstärkung dieses bewegten, rasch voranschreitenden Rhythmus bei.

Dabei führen die Zeilensprünge zusätzlich noch zu einer starken Betonung der jeweils ersten Wörter der Zeilen. Sie werden unwillkürlich betont, da sie zu Beginn stehen.

Die Sprache des Gedichts stellt einen gehobenen Stil dar. So werden zahlreiche Begriffe aus der griechischen Mythologie entnommen („Nausikaa“, „Styx und Lethe“, „Gorgo“). Ihre Bedeutung kann nur bei einem Einblick in die antike Mythologie vollständig geklärt werden, anderenfalls ist ein angemessenes Verständnis des Textes nicht möglich.

 

Neben diesen Formkriterien gibt es noch weitere rhetorische Mittel. So findet sich gleich in der ersten Strophe ein Vergleich („wie Nausikaa). Desgleichen gibt es zahlreiche Alliterationen ( Z 18 „Lügenlauge“; Z 25 Nein und Nicht“), Allegorien („Pluto“ für Tod, „in Gorgos Auge sehen“ für sterben); Inversionen   (Z 21 -22 „Küssen lass mich dein Gesicht“ statt „Lass mich dein Gesicht küssen) und die Personifikation der Anemone*,  der aktives Leben zugeordnet wird  ( Z 26 – 30 „ …lebst und bist du da, still mein Herz zu rühren…“).

Diese gezielte Verwendung von Stilmitteln hat ebenso wie die Benutzung von Ausrufen und Fragen eine Gewichtung bestimmter Wörter und Aussagen und eine Erhöhung der Aufmerksamkeit beim Leser zur Folge. Eine besondere Bedeutung, besonders für den Inhalt, haben die zahlreichen Bilder und Metaphern. In der ersten Strophe das lyrische Ich („erscheinest mir“) die Anemone*, die zurückgekehrt ist. Dabei wird sie mit Königszeichen wie der Krone und Attributen wie „hell“, was für Freude und Gefahrlosigkeit steht, beschrieben. Das lyrische Ich benennt sich selbst als den „Geschundenen“, dem es wie Odysseus ergeht. Der wurde nach der griechischen Mythologie nach langer Irrfahrt von Nausikaa zur Heimat zurückgeführt, sie gab ihm Kleidung und die Chance, seine Odyssee zu beenden. In E. Langgässers Gedicht wird die Anemone mit Nausikaa gleichgesetzt. Sie führt die Menschen wieder zurück in den Frieden nach der langen „Irrfahrt“ des Krieges.

In der zweiten Strophe stellt das lyrische Ich seine Freude über die neue Situation dar. Es fühlt sich, als ob eine ungeheure Last von ihm genommen sei. Diese Last war so schwer, dass der Rücken bis in den Staub, d.h. bis auf den Boden gedrückt wurde. Dieses Bild setzt beim Leser Assoziationen wie „jemandem das Rückgrat brechen“ = „jemandem den Lebenssinn nehmen“ frei. Der Ausdruck „sphärisch“ verdeutlicht die Herkunft der Frieden bringenden Macht, nämlich den Himmel, was als religiöser Aspekt gedeutet werden kann.

In den nächsten beiden Strophen wird das Leben vor dem Kriegsende dargestellt. Man befand sich schon im Reich der Toten bei Pluto, dem Beherrscher der Unterwelt.  Selbst nachdem nun der Frieden eingesetzt hat, ist man noch schwer von dem nahen Tod gezeichnet („unterm Lid noch Plutons Röte … noch im Ohr“). Dies verdeutlicht, wie nahe jeder einzelne dem Tod war, und dass es fast ein Wunder ist, ihm entkommen zu sein. Bestätigt wird dies in der vierten Strophe, in der statt ‚sterben’ „noch in Gorgos Augen“ formuliert wird.

In der fünften Strophe wendet sich das lyrische Ich wieder der Anemone zu. Es will sie küssen, was als Symbol der Dankbarkeit und Freude verstanden werden muss. Das Dem-Tod-Entkommmensein wird nochmals durch die Bezeichnung „ungespiegelt von den Flüssen Styx und Lethe“ deutlicht gemacht. „Ungespiegelt“ heißt „nicht in der Nähe sein“, nicht im Angesicht des Todes leben. Zugleich entfernt sich das lyrische Ich vom „Nein und Nicht“, d.h. diese negativen Attribute sind verschwunden, wobei das Nichts wiederum als Zeichen für Sterben aufgefasst werden kann, denn nach dem Leben kommt für viel Menschen ein Nichts.

In der letzten Strophe wird wieder die besondere Stellung der Anemone hervorgehoben. Dabei rührt dieses Synonym des Friedens und Lebens das Herz, ohne es zu schüren. Damit steht es in krassem Gegensatz zu der vorherigen Zeit, in der das Herz von Versprechungen verführt worden ist und der Krieg das Feuer im Herzen, das Leid geschürt hat. Während in der ersten Strophe noch gefragt wird, ob die Anemone die Rolle der Nausikaa übernommen habe, wird sie ihr jetzt zugeordnet. Zugleich wird die Anemone als Kind betitelt, was ein Bild für Unschuld und Reinheit ist.

Elisabeth Langgässer setzt sich mit in ihrem Gedicht mit der Situation  nach Kriegsende auseinander. Dabei stellt sie das Entrinnen der Überlebenden vor dem Tod und ihr unglaubliches Erstaunen, aber auch ihre Freude darüber dar. Etwas überraschend ist jedoch der Titel „Frühjahr 1946“, da der Krieg ja bereits im Frühjahr 1945 beendet war. Eine Erklärung dafür könnte sein dass erst im Laufe der Zeit der Schaden und die Angst voll überwunden werden konnte.

                          *

 

        Horst Bingel  (1933 - 2008)

        Fragegedicht

        (Wir suchen Hitler)

         

        Hitler war nicht in Deutschland

        niemals

        haben sie wirklich herrn Hitler gesehen

        Hitler ist eine erfindung

         

        man wollte uns

        wie damals

        die schuld

        Hitler ist eine erfindung

        dekadent

        ihre dichter

         

        für Hitler

        erstmals

        den Nobelpreis

        für ein kollektiv

        Hitler

         

        eine deutsche Frau

        ist nicht für Hitler

        die deutschen frauen

        nicht

        sie tun es

        die pfarrer

        am sonntag frühmorgens

        niemand hat Hitler gesehen

         

        niemand hat Hitler gesehen

        Hitler ist ein gedicht

        nur an gedichten

        sterben sie nicht

         

        in blauen Augen

        wird Hitler

        kein unheil anrichten

        wer hat gesagt

        die Juden die Deutschen die Polen

        gibt es nicht

         

        Hitler ist eine erfindung

        der bösen der guten der bösen

        wer so etwas

        wir aber werden

        verzeihen

        poesie

        das hebt

        heraus

        Hitler ist keine nationaldichtung

        wir waren schon immer

        verderbt

        durch fremdländisches

         

        Hitler ist

        internationale poesie

        Goethe hat es

        geahnt

        Goethe unser

         

        Hitler hat inspiriert

        autobahnen

        briefmarken

        wir haben Hitler

        umgesetzt

        wirtschaftlich autark

        nichts wurde fortan

        unmöglich

         

        Hitler

        unsere stärke

        war

        fremdländisches

        umzusetzen

        umzusetzen

        wir haben Hitler

        assimiliert geschluckt

        Hitler

        ich

        du

        Hitler

        ohne ende ohne

        kein ende

        ich

        du

        wir fragen nach

        Hitler

         

        Hitler

        wir

        Hitler

        aber wir fragen

                 *

 

Das Fragegedicht entstand 1964, zur Zeit des Auschwitz-Prozesses und wurde am 30.Januar 1965 – in Anspielung auf den 30. Januar 1933 -  in der FAZ abgedruckt. Der politische Text führte wochenlang zu einer Leserbrief-Kontroverse.

 

Quellen:

 - Nachkrieg und Unfrieden . Hrsg. Hilde Domin. 1970   Luchterhand Verlag Neuwied/ Berlin  S. 60 – 62

                             (um die letzten 14  Verszeilen gekürzte Version)

- Deutsche Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart. Hrsg. V. Gerhard Hay und Sibylle  von  Steinsdorff,

                dtv  - 1980/  (10.) 2002  S. 303 – 305 (vollst. Fassung)

Ich danke dem Autor Horst Bingel ganz herzlich für die Abdruckerlaubnis dieses wichtigen Textes zur deutschen Verdrängungsproblematik nach ’45.

                                                                                            Erich Adler, September 2007

Nachtrag: Horst Bingel verstarb am 14. April 2008 in Frankfurt a. M.

 

Auch Horst Bingel setzt sich in seinem „Fragegedicht (Wir suchen Hitler)“ mit der Situation im Nachkriegsdeutschland auseinander. Dabei verzichtet er weitgehend auf formale Grundmuster. Sein Werk besteht aus zehn „Strophen“. (Richtige Strophen sind es nicht, denn es erfolgt keine Abgrenzung wie z.B. durch Versanzahl). Die Zahl der Verse je Versgruppe reicht von vier bis 22. Auch die Zeilenlänge variiert stark. Sie reicht von einer Silbe bis zu elf Silben. Ein Reimschema gibt es nicht, lediglich in Z 25 und 27 erfolgt ein Reim („Gedicht“ – „Nicht“). Das Metrum ist unregelmäßig; dadurch und durch die abgehackten, oftmals nicht beendeten kurzen Sätze wirkt der Rhythmus rasch und zerhackt. Zum Ende hin wird der Redefluss beim Lesen schneller, da die Zeilen z.T. nur noch aus einem Wort bestehen. Die beherrschenden rhetorischen Mittel sind Wiederholungen, Ellipsen und Enjambements. Sie prägen das gesamte Gedicht.

Inhaltlich vollzieht sich eine Veränderung.  Während in den ersten Zeilen noch bestritten wird, dass es Hitler überhaupt gegeben habe („Hitler ist eine Erfindung“; „Hitler war nicht in Deutschland“;  er wird sogar als Erfindung von Dichtern bezeichnet – allerdings wird in Zeile 27 gefragt, wie Gedichte töten können), so geht man im Laufe des Gedichtes zu anderen Positionen über. Zu Beginn wird eine provozierende Parallele zum ersten Weltkrieg gezogen: „man wollte uns/ wie damals/ die schuld“; denn auch 1918 glaubten viele, Deutschland sei unschuldig am Kriegsleid gewesen. Dass Hitler nicht allein gestanden hat, wird deutlich, wenn vom „Nobelpreis für ein Kollektiv“ (Z 13-14)  gesprochen wird. Dabei wird dieser Preis normalerweise für außergewöhnliche Leistungen vergeben, aber auch die Maschinerie der Nazis kann als präzise und ‚vollkommen’ in der Vernichtung gesehen werden. (Hier wäre der Sarkasmus Bingels zu akzentuieren; Ad)

Wie die Deutschen nach dem Krieg über Hitler denken, wird in der vierten Versgruppe deutlich. Es heißt da: „eine deutsche Frau ist nicht für Hitler“. Dies verdeutlicht, dass im Nachhinein keiner für Hitler gewesen sein will. Das gilt für die Pfarrer, die (nach Meinung des lyrischen Sprechers) wie gewohnt ihren Gottesdienst pflegen, als hätten sie nie etwas mit Hitler zu tun gehabt.

In den folgenden Zeilen wird die Äußerung, Hitler habe es gar nicht gegeben, abgeschwächt. Nun wird er als jemand beschreiben, der kein Unheil  anrichtet („in blauen Augen…“ Z 28ff). Zugleich wird dies aber auf Deutsche („blaue Augen“) eingeschränkt. Die Äußerung „wer hat gesagt/ die Juden die Deutschen die Polen gibt es nicht“ Z 31f)  impliziert zugleich Rechtfertigung der Kriegstreiber,  „dass es ja noch Juden und Polen gebe, die Vernichtung also nicht so schlimm gewesen sein könne. Dieser Kommentar wird jedoch durch die Negation der Verneinung (doppeltes „nicht“) aufgehoben; die tatsächliche Vernichtung wird deutlich.

Im dann folgenden Text wird Hitler als „fremdländisch“ bezeichnet, damit spielt man auf seine österreichische Herkunft an. Die Schuld wird auf das Ausland abgewälzt. Hitler sei das Größte an internationaler Poesie; „wir waren schon immer verderbt durch fremdländisches“ (Z 45f). Ihm wird Goethe gegenübergestellt, der als deutscher Autor schlechthin gilt. Dadurch wird der Kontrast zwischen Goethes Deutschland „gut und schön“ – Hitler = Ausland = schlecht  verstärkt.

In der neunten Versgruppe geht man schließlich dazu über, die Vorteile der Naziherrschaft zu benennen. Dabei wird auf so Banales wie Autobahnen und Briefmarken verwiesen. Je näher man an den Schluss des Textes kommt, desto deutlicher wird die wahre Beantwortung  der Frage, wo Hitler sei. Es wird gesagt, dass „wir“, also die Deutschen, Hitler Ideen umgesetzt, dass wir ihn „geschluckt“ (Z 69), d.h. vollständig aufgenommen hätten.  Am Gedichtende wird durch die lose Reihung von „ich –du –Hitler“ deutlich, dass im Grunde genommen jeder von den Deutschen ein Stück Hitler war, jeder hat ihn mit getragen, passiv oder aktiv. Und obwohl „wir“ wissen, dass wir alle Schuld tragen, fragen „wir“ dennoch, wo und wer Hitler war.

Horst Bingel stellt in dem Fragegedicht die typische Realität der Deutschen im Nachkriegsdeutschland dar. Keiner will Hitler gewollt haben, alle waren gegen ihn. Man hat versucht die Schuld auf andere wie z.B. das Ausland abzuwälzen. Bei genauerem Nachfragen wird jedoch deutlich, dass man die Vorteile des Regimes wie wirtschaftlichen Aufschwung schätzte. Letztendlich muss sich jeder eingestehen, zum Erhalt des Systems beigetragen zu haben, dennoch versucht man, seine Schuld zu verdrängen. Gegen dieses richtet sich der Autor. Er will den Leser wachrütteln, ihn zur Selbstkritik zum Schuldeingeständnis veranlassen. Horst Bingel stellt hier ein Problem dar, das im Nachkriegsdeutschland weit verbreitet war, nämlich die fehlende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

 

                                 2.

Sowohl Elisabeth Langgässer als auch Horst Bingel setzen sich in ihren Gedichten mit der Situation im Deutschland nach  ’45 auseinander. Beide Texte stellen einen Beitrag zur Nachkriegsliteratur dar, dennoch finde ich sowohl inhaltlich wie formal große Differenzen. Während Langgässer auf eine starre Form achtet, verzichtet Bingel auf die strikte Einhaltung von formalen Aspekten wie Reim, Metrum und Rhythmus. E. Langgässer befindet sich in der Tradition zu vorangegangenen Epochen. Sehr lange galt Lyrik nur als wirkliche Kunst, wenn sie auf die Form achtete. Nach den Schrecken des Krieges (und nach den negativen Erfahrungen mit einer politisch angepassten und kontrollierten Sprache selbst in der Literatur; Ad), standen die meisten Lyriker vor dem Problem, einen völligen Neuanfang zu schaffen. Dazu gehörte für viele der totale Verzicht auf Formtreue. Sie wurde als systemkonform und typisch für die den Krieg tragende bürgerliche Schicht gesehen. Viele Autoren fragten sich, wie man im Angesicht dieser Schrecken bei der Dichtung noch auf Äußerliches achten könne; für sie stand allein der Inhalt im Vordergrund. Damit befindet sich Langgässer in deutlicher Opposition zu den jüngeren Nachkriegsautoren. Dennoch muss man sagen, dass für einige auch weiterhin die Form elementares Bestandteil der Lyrik blieb. Und auch in vorangegangenen Epochen, die wie z.B. der Barock durch Kriegsschrecken geprägt waren, gab es besonders strikte Formanleitungen (Sonett). Dies diente dazu, die Not und das Leid zu bewältigen, denn um über dieses zu schreiben, bedurfte es zuerst einmal der Reflexion.

Aber nicht nur formal, auch inhaltlich befindet sich Langgässer mit ihrem Gedicht in Opposition zu der sich bildenden Literaturauffassung nach ’45. Angesichts des millionenfachen, des unvorstellbaren Grauens erschien vielen Autoren die Dichtersprache als zu schwülstig, als zu verschönernd. Sie waren der Meinung, dass nur ein Verstummen der Sprache dem Leid gerecht werden könne. (Zu denken ist hier an das lange diskutierte Schlagwort Adornos: Nach Auschwitz könne/ dürfe  man keine Lyrik mehr schreiben; Ad). Deshalb gab es den Trend, sich der Alltagssprache zu bedienen und jedes unnötige (d, m,  „poetisch“  belastete; Ad) Wort erbarmungslos zu streichen. Das Groteske, die „Ästhetik des Hässlichen“, erfuhr ebenfalls einen Aufschwung.

Langgässer bedient sich einiger Metaphern und Umschreibungen wie „Holde Anemone“ oder „windbewegtes Bücken“ (Z 6). Zudem greift sie zurück auf die  Antike Mythologie, ebenfalls im krassen Gegensatz zum Selbstverständnis der meisten „neuen“ Autoren. Religiöse Umschreibungen („sphärisches Entzücken“ – Z8) und Ausdrücke wie „Nichts“ galten ebenfalls als verpönt, da sie Zeichen früherer Epochen waren.

Ein weiterer Punkt der unterschiedlichen Auffassungen ist die Auseinandersetzung mit dem „Ich“. Bei vielen Autoren muss es dem unpersönlichen „Es“ weichen. Auch die Beschreibung der Situation wie bei Langgässer erschien vielen Lyrikern als unangebracht; man wollte nicht das Schöne am Kriegsende aufzeigen, sondern den Leser zur Kritik anregen, eine neue Wirklichkeit schaffen.

Somit stellt Horst Bingels „Fragegedicht“ sowohl formal als auch inhaltlich das Verständnis von „Trümmerliteratur“ dar. Er verzichtet auf Form, behandelt ein von der Masse ungeliebtes Thema – die Verdrängung- und tut dies auf eine neue Art und  Weise mit zahlreichen Verkürzungen, die das Ganze collagenhaft wirken lassen, wobei er auf alte Metaphern und Bilder verzichtet. Zugleich befindet er sich noch nicht in der Phase hermetischer Lyrik, die durch den Gebrauch von absoluten Metaphern, surrealistischen Bildern und Chiffren eine neue Phase  der Nachkriegslyrik mit schwierigem Textverständnis einleitet.

Zusammenfassend kann man sagen, dass E. Langgässers und  H. Bingels Gedicht starke Gegensätze aufweisen, obwohl sie derselben Epoche angehören. Dies ist jedoch typisch für die Moderne, die ein Nebeneinander von ganz verschiedenen Literaturverständnissen ermöglicht. Dabei kann man Horst Bingel als Vertreter der neuen Nachkriegsautoren sehen, die einen Bruch mit der vorherigen Zeit zu vollziehen versuchen, während Elisabeth Langgässer doch zahlreiche Elemente früherer Literaturepochen in ihrem Werk benutzt.

                                                                               Stefan Staats ©   GBE  -  LK  1992

Lehrerkommentar:

Eine sehr gelungene Arbeit! Die Unterschiedlichkeit beider Gedichte ist genau erkannt und kritisch untersucht. Vor allem ist auch die Schwäche des traditionellen Textes gesehen und in genauer Textarbeit am Gedicht nachgewiesen.

 P. S. 2006 – Die Anemone, das Buschwindröschen, ist aufgrund seines großen Lichtbedarfs (sic!) ein typischer Frühjahrsblüher unserer Wälder.

P.S. 07/2013

Von dieser Deutung des Gedichts der Elisabeth Langässer hat sich Alfred Schiffner  in einer E-Mail unter Hinweis auf die Biographie der Autorin m. E. zu krass distanziert:

“Die Interpretation von Frühling 1946 ist abwegig. Eine vernünftige Deutung ergibt sich nur aus dem Verhältnis von E. Langgässer zu ihrer Tochter Cordelia, die 1946 aus Schweden zurückkam, wohin sie nach ihrer Errettung aus Auschwitz gebracht worden war. Näheres in der einschlägigen Literatur und bei Cordelia Edvardson (Tochter Elisabeth Langgässers) "Gebranntes Kind sucht das Feuer".

 

> PDF - Bingel - Langässer